75 Jahre nach der Charta der Vertriebenen können wir aus deren Geschichte noch heute lernen.
Von Armin Käfer
Stuttgart - Flucht und Vertreibung überschatten die Geschichte, seit der Homo sapiens die Welt beherrscht. Sie sind nicht bloß eine Begleiterscheinung moderner Kriege, des wiedererwachten Imperialismus, religiös, nationalistisch oder rassistisch motivierter Konflikte der Neuzeit. Der Migrationsforscher Andreas Kossert nennt sie „ein historisches Menschheitsdrama“. Davon erzählen sowohl die Geschichten von der babylonischen Gefangenschaft der Juden oder dem Auszug der Israeliten aus Ägypten im Alten Testament, wie auch Berichte von Zeitzeugen der Völkerwanderungszeit.
Flucht und Vertreibung prägen auch die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs und den Jahren danach wurden Millionen Deutsche aus ihren Herkunftsregionen verjagt. Sie verloren Heimat und Besitz, wurden gewaltsam entwurzelt. Die meisten von ihnen kamen im Westen des besiegten Deutschlands unter – und sind hier heimisch geworden. Allerdings war das ein langer, konfliktreicher, mitunter schmerzlicher Prozess.
Die Flüchtlingskrise von damals übertrifft aus deutscher Perspektive bei weitem die Dimension dessen, was wir heute mit dem gleichen Wort bezeichnen. Weltweit sind gegenwärtig zwar mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Die meisten von ihnen bleiben jedoch außerhalb unseres Wahrnehmungshorizonts. In Deutschland haben seit 2015 drei Millionen Menschen einen Asylantrag gestellt. Dazu kamen eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. In den Nachkriegsjahren strömten mehr als zwölf Millionen aus dem Osten in das kriegszerstörte Land unserer Vorfahren.
Flucht und Vertreibung haben Deutschland damals und heute auf sehr unterschiedliche Weise verändert – dennoch gibt es auch Parallelen. In der Nachkriegszeit kamen Menschen, welche die gleiche Sprache gesprochen haben, ähnliche Traditionen, Werte und Erfahrungen teilten. Flüchtlinge und Alteingesessene mussten nach Kriegsende bei Null beginnen – auch wenn den einen noch weniger geblieben war als den anderen.
Die Neuankömmlinge erlebten selten etwas wie Willkommenskultur, obwohl ihre neuen Nachbarn gleicher Nationalität waren, ihre Religion sich allenfalls konfessionell unterschied. Dennoch begegnete ihnen Ablehnung, ja sogar Missgunst. In den zerbombten Städten war Wohnraum knapp, auf dem Land die Skepsis gegenüber Menschen mit anderem Dialekt oder Katechismus groß.
Heute speist sich die Skepsis gegenüber Fremden aus weit größeren kulturellen Kontrasten: unterschiedlicher Sprache, Religion, Wertehierarchie. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Regionen, in denen Toleranz, Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie Rechtsstaatlichkeit oder gar die Akzeptanz diverser sexueller Orientierungen nicht heimisch sind. Viele Einheimische sehen durch eine ungesteuerte Migration ihren Wohlstand, ihre Sicherheit, ihre Identität, den Frieden im Land gefährdet.
Es hat lange gedauert, bis die Vertriebenen der Nachkriegszeit nicht mehr als Bürger zweiter Klasse wahrgenommen wurden. Motor ihrer Integration war die Arbeit. Sie haben Deutschland mit aufgebaut, profitierten dabei wie ihre neuen Nachbarn vom Wirtschaftswunder. Auf ein neues Wirtschaftswunder können wir nicht warten. Der Bedarf an Arbeitskräften ist aber auch heute immens. Allerdings setzt das Bereitschaft und Kompetenz voraus, was nicht jeder mitbringt, der hier eine neue Bleibe sucht. Beides wird zu einer Art Eintrittskarte für die große Mehrheit derer, die keinerlei Anspruch auf Asyl vorweisen können.