Wie Probiotika dem Hirn schaden

Forscher warnen vor Präparaten mit Risikopotenzial

Von Jörg Zittlau

Viele Menschen greifen zu probiotischen Drinks und Joghurts, um ihrer Darmflora etwas Gutes zu tun. Doch neueste Studien zeigen: Das kann Auswirkungen auf die Hirnnerven haben.

Augusta Eine Zahl mit 14 Nullen: Etwa 100 Billionen Bakterien leben im menschlichen Darm. Sie helfen nicht nur bei der Verdauung, sondern produzieren auch Vitamine, trainieren das Immunsystem und fördern sogar die Hirnentwicklung. Weltweit greifen daher Millionen Menschen zu probiotischen Drinks, Joghurts und Präparaten, um ihrer Darmflora Gutes zu tun. Dabei zeigen aktuelle Studien, dass sie damit ihrem Gehirn sogar schaden können.

Die 22 Patienten aus dem Bundesstaat Georgia waren dankbar, dass man sie an der University of Augusta für eine Studie ausgewählt hatte. Denn sie litten schon seit Monaten unter Konzentrationsschwäche und Verwirrtheit, einige von ihnen mussten deswegen sogar schon ihren Job aufgeben. Dazu kamen: Aufstoßen, Bauchkrämpfe und Durchfall, wenn sie etwas gegessen hatten. Kein ärztlicher Therapieversuch hatte bislang wirklich etwas gebracht. Deswegen hofften die Patienten jetzt, dass den Forschern etwas zu ihrem entnervenden Müdigkeits-Verdauungs-Problem einfallen würde.

Im ersten Teil der Studie befragten die Forscher die Teilnehmer zu ihren Ernährungsgewohnheiten, untersuchten deren Blut, Urin und Darmflora. Außerdem mussten sie in ein Gerät ausatmen, mit dem nachgewiesen werden konnte, ob im Dünndarm eine bakterielle Zersetzung von Zucker erfolgte. Bei einem gesunden Menschen sollte das nicht der Fall sein, weil sein Dünndarm den Zucker eigentlich so perfekt absorbieren kann, dass für zuckerzersetzende Laktobazillen kaum noch etwas übrig bleibt.

Als Ergebnis der Untersuchungen zeigte sich aber genau das: Der Dünndarm der Patienten war massiv mit Laktobazillen besiedelt. Diese Mikroben zersetzen Zucker und geben dabei D-Milchsäure ab. Und die konnte man gleichfalls in großer Menge im Blut und Urin der Patienten nachweisen. Womit dann auch eine Erklärung für ihre kognitiven Funktionsstörungen gefunden war. Denn D-Milchsäure wirkt giftig auf die Hirnnerven und beeinträchtigt dadurch Gedächtnis, Zeitgefühl und viele andere Denk- und Wahrnehmungsprozesse.

Ein Blick auf die Ernährungsgewohnheiten der Patienten ergab, dass die Betroffenen – im Unterschied zu einer Vergleichsgruppe mit gesunden Teilnehmern ohne auffälligen D-Milchsäure-Befund – fleißig Probiotika konsumierten. Einige von ihnen verzehrten täglich gleich mehrere davon mit unterschiedlichen Zusammensetzungen. Dazu häufig auch Joghurt, der bekanntermaßen ebenfalls Laktobazillen enthält. Im Speiseplan der gesunden Probanden spielte all dies hingegen keine Rolle. Was laut Studienleiter Satish Rao dafür spricht, dass die Hirn- und Verdauungsprobleme der Patienten durch ihren hohen bis exzessiven Konsum der probiotischen Kulturen ausgelöst wurden. „Sie ebneten den Laktobazillen offenbar den Weg, um sich im Dünndarm und teilweise sogar im Magen auszubreiten“, erläutert der Gastroenterologe.

Den Patienten wurde geraten, keine Probiotika mehr zu konsumieren. Außerdem verabreichte man ihnen ein spezielles Antibiotikum, um den Laktobazillen im Dünndarm den Garaus zu machen. Also genau entgegen der üblichen Empfehlung, wonach einer Antibiotikum-Behandlung eine Probiotika-Kur folgen sollte, um die Darmflora wieder in Schuss zu bringen. Doch das Wagnis zahlte sich aus: Drei Monate später waren 85 Prozent der Patienten im Test kognitiv wieder voll auf der Höhe, ihr Gehirn hatte sich von der Milchsäure-Flut erholt. Das mag tröstlich sein, doch für Satish Rao steht trotzdem fest: „Probiotika sollten nicht als Nahrungsergänzung, sondern als Arzneimittel betrachtet werden.“

Die als Darmflora-Support zugeführten Bakterienstämme sind also nicht so harmlos, wie sie weithin dargestellt werden. Und damit nicht genug: Laut einer Studie aus Israel sollte man auch ihre positiven Effekte nicht überschätzen. Das Forscherteam um Erin Elinav vom Weizmann-Institut bei Tel Aviv verabreichte seinen 15 Testpersonen entweder täglich ein Probiotikum mit elf verschiedenen Bakterienstämmen oder ein wirkungsloses Placebo. Die Studie dauerte vier Wochen, vorher und nachher wurde die Darmbesiedlung der Probanden untersucht.

Es zeigte sich: Die Darmflora war nur bei ungefähr der Hälfte der behandelten Probanden mehr oder weniger bereit, das zugeführte Probioten-Heer in ihren Reihen aufzunehmen. Die Darmflora der übrigen Testpersonen akzeptierte hingegen wenig bis gar keine Bakteriengäste. Was für Elinav bedeutet: „Die derzeitige Praxis, dass Millionen unterschiedlicher Menschen die gleichen probiotischen Kulturen einnehmen, bedarf einer Korrektur.“ Denn viele Konsumenten würden nur wenig oder gar nicht davon profitieren. „Probiotische Behandlungen müssten vielmehr auf den einzelnen Anwender abgestimmt sein“, so der Immunologe.

In einem zweiten Versuch verabreichten die Forscher 21 Probanden erst ein Breitbandantibiotikum und überließen sie dann entweder sich selbst oder behandelten sie mit einer probiotischen Kultur. Man erwartete, dass die Darmflora – geschwächt durch das Medikament – nun die zugeführten Bakterien besser akzeptieren würde. Tat sie aber nicht. Die probiotischen Gäste schafften es nicht, sich neben den bakteriellen Hausherren im unteren Verdauungstrakt zu etablieren. Zudem zeigte sich: Wer als Patient keine Probioten erhalten hatte, dessen Darmflora erholte sich deutlich schneller von dem vorher eingenommenen Antibiotikum. Vermutlich, weil sie sich nicht um die Integration anderer Keime kümmern musste.

D-Milchsäure beeinträchtigt Denk- und Wahrnehmungsprozesse

Viele Konsumenten profitieren nicht oder kaum von Probiotika