Wie Russland gegen Andersdenkende vorgeht

Von Von Ulf Mauder, dpa

dpa Moskau. Mord, Spionage und sogar Kindesmissbrauch - Russlands Strafjustiz zieht alle Register, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Die Gegner von Kremlchef Wladimir Putin klagen über immer mehr Repressionen. Experten haben dafür eine Erklärung parat.

Wie Russland gegen Andersdenkende vorgeht

Der Menschenrechtler und Historiker aus Russland Juri Dmitrijew spricht zu Journalisten vor einem Gerichtsraum. Foto: Vladimir Larionov/AP/dpa

Die Vorwürfe gegen den russischen Historiker Juri Dmitrijew sind aus Sicht von Menschenrechtlern „besonders brutal“: Die Staatsanwaltschaft wirft ihm sexuellen Missbrauch seiner Adoptivtochter vor.

Nach mehr als drei Jahren in den Mühlen der Strafjustiz ist der 64-Jährige sichtlich zermürbt. 15 Jahre Haft drohen ihm. An diesem Mittwoch endet sein Prozess in Petrosawodsk im Norden Russlands. Doch niemand glaube, dass die Anschuldigungen wahr sind, stellt die Menschenrechtsorganisation Memorial fest. Vielmehr gilt Dmitrijew als politisch Verfolgter, der mit erfundenen Vorwürfen zum Schweigen gebracht werden soll. Russland kennt viele solcher Fälle - und es werden immer mehr.

„Opfer ist nicht nur Dmitrijew, sondern auch seine Tochter, die um ihr Leben in ihrer Familie gebracht wurde“, teilt Memorial mit. Das Mädchen ist heute 15 Jahre alt. Beweise für eine Schuld Dmitrijews gibt es auch laut Gutachten nicht. Doch den Behörden in der Republik Karelien gefiel vor allem nicht, dass der Historiker bei Memorial den Verbrechen unter dem Sowjetdiktator Josef Stalin nachspürte. Das Kulturministerium in Karelien sah die Gefahr, dass durch Dmitrijews Arbeit der „internationale Ruf Russlands“ Schaden nehmen könnte.

1997 hatte Dmitrijew nach Forschungen zu Hinrichtungen unter Stalin in Sandarmoch ein Massengrab mit 7000 Leichen aus der Zeit des Großen Terrors von 1937 und 1938 gefunden. Er organisierte das Gedenken - geriet damit aber jenen Kräften in die Quere, die Stalin verehren. „Wir müssen an jene Menschen erinnern, die durch den Willen der Anführer unseres Staates starben“, sagte Dmitrijew vor Gericht. Er halte das für seine patriotische Pflicht, sagte er jenen, die ihm vorwerfen, er wolle Russlands Geschichte mit Füßen treten.

„Dmitrijews Anklage ist im Kontext mit den Anstrengungen der russischen Behörden zu sehen, die Verbrechen Stalins kleinzureden“, teilte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mit. Medien zeichneten nach, wie Ermittler 2016 in Dmitrijews Anwesenheit in seine Wohnung eindrangen und von seinem Computer Dateien sicherten. Dort gab es auch Bilder der nackten Adoptivtochter, die Gutachter ausdrücklich nicht als Kinderpornografie einstuften.

Dmitrijew ist mehrfacher Vater und Großvater - niemand bezeugte pädophile Neigungen, auch Psychiater nicht. Die Nacktfotos hatte er nach eigener Darstellung gemacht, um die Entwicklung des unterernährten Kindes zu dokumentieren.

Zwar gab es für ihn in einem früheren Verfahren einen Freispruch. Das Oberste Gericht Kareliens kassierte den aber 2018, weshalb es zur neuen Festnahme samt Prozess kam. Russlands Justiz lässt fast nie jemanden aus ihren Fängen, den sie einmal hat. Und die Opposition beklagt inzwischen landesweit immer schlimmere Repressionen gegen Andersdenkende. Demonstranten und Aktivisten finden sich oft in Haft als Staatsfeinde wieder - unter anderem wegen Extremismus.

Und fast immer gibt es in den Verfahren - wie im Fall Dmitrijew - zweifelhafte Beweise. Der frühere Journalist Iwan Safronow, der Skandale in der Rüstungsindustrie öffentlich machte, sieht sich vom Inlandsgeheimdienst FSB als Spion für die Nato beschuldigt. Der FSB steht bisweilen in der Kritik - wie sein Vorgänger KGB - mit gefälschten Beweisen und gekauften Zeugen gegen System-Kritiker vorzugehen. In beiden Organisationen diente auch Präsident Wladimir Putin - am Ende als FSB-Chef. Der Herr im Kreml nehme inzwischen jeden Preis in Kauf, um sich an der Macht zu halten, schreibt die Politologin Lilja Schewzowa bei Facebook.

Ähnlich Aufsehen erregend wie Safronows Inhaftierung war zuletzt die des Gouverneurs Sergej Furgal, der in Moskau wegen mehrfachen Mordes in Untersuchungshaft sitzt. Kommentatoren meinten mit Blick auf den Fall Furgal, der Kreml habe sich schon viel einfallen lassen - vor allem Prozesse wegen Korruption und Betrugs -, um sich unliebsamer Gouverneure zu entledigen. Aber Mord - das übertreffe alles Bisherige.

Die politisch inszenierten oder bestellten Prozesse zeigten die ganzen Auswüchse eines „fortgeschrittenen Autoritarismus“, stellt der Experte Andrej Kolesnikow bei der Moskauer Denkfabrik Carnegie Center fest. Er sieht Mechanismen, die es schon zu KGB-Zeiten gab: die Suche nach äußeren und inneren Feinden und eine Verschärfung der Repressionen. Damit würden etwa wirtschaftliche Probleme überdeckt.

Kremlkritiker sehen darin vor allem das Ziel, die Gesellschaft mit harten Urteilen in Angst zu versetzen. Doch immer mehr Menschen in Russland gehen auf die Straße, um gegen Ungerechtigkeit zu protestieren. Im vergangenen Jahr führte das zur Freilassung des Journalisten Iwan Golunow. Ihm hatte die Polizei in Moskau Drogen untergeschoben, um ihn aus dem Weg zu räumen. Golunow hatte ein mafiöses System im Polizeiapparat und die Verwicklung der Beamten ins Beerdigungsgeschäft enthüllt und sich so Feinde gemacht.

Die Straßenproteste reißen auch im Fall des wegen Mordes inhaftierten Politikers Furgal nicht ab. Die Demonstrationen im äußersten Osten Russlands gelten als die größten, die es je in der russischen Provinz unter Kremlchef Putin gegeben hat. Fast täglich rufen dort die Menschen unter anderem laut nach „Freiheit“.

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