„Wir besetzen für die Zukunft“

Die Renaturierung der Murr schreitet voran. Von Backnang bis Murr hat die Hegegemeinschaft Einzugsgebiet Murr etwa 10000 junge Aale freigesetzt. Der Bestand der heimischen Art ist in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen.

„Wir besetzen für die Zukunft“

Vorsichtig entlässt Markus Weber die jungen Aale an der Bleichwiese in die Murr. Fotos: T. Sellmaier

Von Simone Schneider-Seebeck

BACKNANG. Da wuseln sie noch – und innerhalb von wenigen Minuten sieht man so gut wie keinen mehr. Die kleinen schlanken Fische, im Übergangsstadium vom Glas- zum Satzaal, haben sich blitzschnell auf die Suche nach einem Versteck gemacht, unter dem bewachsenen Gitter direkt an der Murrtreppe, unter Steinen oder sogar im Schlamm. Und das ist auch gut so, denn als hätte er von der Besatzaktion gewusst, kommt ein Kormoran angeflogen. Kaum auf dem Gewässer gelandet, taucht der elegante Vogel auch schon gezielt in die Tiefen der Murr, und beim zweiten oder dritten Versuch zappelt ein junger Aal in seinem Schnabel. „Für den ist das ein Festmahl“, erklärt Alexander Schaal, Vorsitzender des Anglervereins Backnang. Vielleicht ist der Besuch des grazilen Fliegers ein Zeichen dafür, dass die bereits vorhandenen und noch geplanten Strukturverbesserungen durch die Hegegemeinschaft Einzugsgebiet Murr (HGEZG) und das Regierungspräsidium Stuttgart ihre Wirkung zeigen, sodass alle Flussbewohner bald im Einklang miteinander leben können.

Aber von vorn. Der Aal ist ein einheimischer Bewohner der Murr, davon zeugen bereits historische Aufzeichnungen aus dem Jahr 1875. Doch im Laufe der Jahrzehnte ging der Bestand durch unterschiedliche Faktoren immer weiter zurück. Im vergangenen Jahr hat sich die HGEZG gegründet, eine Verbindung von Angelvereinen von Murrhardt bis Murr. Ihr Ziel ist es, dem Fluss wieder Leben einzuhauchen, gilt er doch ökologisch betrachtet als besonders förderungsbedürftig. So wurden bereits Weiden zur Beschattung und Neckarschwarzpappeln unter anderem zur Uferbefestigung gepflanzt. Bei der neuesten Aktion finden 10000 junge Aale ab Backnang flussabwärts eine neue Heimat.

Die Aale sollen der Ausbreitung des Signalkrebses Einhalt gebieten.

Flussaufwärts beginnt ab der Einmündung der Weissach die Äschen- und Forellenregion und diese Fische stehen mit den Aalen in Konkurrenz. Doch der schlangengleiche Raubfisch hat auch eine Aufgabe zu erfüllen. „Durch den Besatz von vorgestreckten Glasaalen wird die Biodiversität des Flusses gesteigert“, erklärt Markus Weber, zweiter Sprecher der Hegegemeinschaft und Gewässerwart des AV Backnang. Der Aal soll „dem invasiven und sich immer stärker in der Murr ausbreitenden amerikanischen Signalkrebs Einhalt gebieten“.

In unspektakulären Kartons werden die Tiere angeliefert. Jeder Karton enthält einen dicken, mit Wasser gefüllten Plastiksack, in dem reges Treiben herrscht. Kaum zu glauben, aber rund 600 Tierchen befinden sich in so einem Beutel. Nicht nur in Backnang an verschiedenen geeigneten Stellen, auch in Burgstetten, Kirchberg an der Murr, Steinheim an der Murr und Murr werden die etwa eineinhalb Jahre alten Fische zu Wasser gelassen. Das sind insgesamt etwa 40 Kilogramm. Die Menge ist nicht ganz billig, gut 3700 Euro kostet die Aktion. Ausgesprochen dankbar sind Phillip Eberle vom projektverantwortlichen Angelverein Murr und die Mitglieder der Hegegemeinschaft, dass es Sponsoren gibt, die sich mit großzügigen Spenden daran beteiligen.

Die erste Stelle, an der die Glasaale ihre neue Heimat beschwimmen sollen, befindet sich an der Murrtreppe vor dem Bleichwiesenwehr. Einige Passanten genießen hier die Sonne und beobachten mit großem Interesse, was passiert. Zunächst kommen die Fische vom Beutel in einen Eimer, dann werden sie vorsichtig zu Wasser gelassen und sind innerhalb von Sekunden in alle Winde, oder eher alle Strömungen, verteilt. Ab und zu blitzt noch einer unter einem Stein hervor, ein anderer buddelt sich ein.

Nur fünf bis zehn Prozent der Aale werden ihren Geburtsort als geschlechtsreife Tiere erreichen, unter anderem wegen ihrer Fressfeinde. Und zu denen gehört, man vermutet es schon, unter anderem der Kormoran. Der wird sich gefreut haben, dass es an diesem Samstag einen solchen Leckerbissen gibt. Fast jeder Tauchgang ist erfolgreich. Und für die Zuschauer ist es ein einmaliger und spektakulärer Anblick. Schließlich fahren Markus Weber, Alexander Schaal und Tobias Hägele, Umweltingenieur mit Fachrichtung Wasser und ökologischer Berater, zügig zur nächsten Besatzstelle – bevor der Kormoran kommt.

Info

Der Europäische Aal ist ein sogenannter katadromer Wanderfisch – er reist zum Laichen vom Süßwasser ins Meer und zwar durch die halbe Welt bis zur Sargassosee südlich der Bermudainseln. Die Reise beginnt zwischen Oktober und November. Gut 18 Monate ist er dann unterwegs. Bis zu 2000 Meter tief geht es hinab, um zu laichen. Danach sind die Eltern so entkräftet, dass sie sterben.

Aale können wesentlich besser riechen als Hunde. Das hilft ihnen dabei, von der Südsee zu den europäischen Flüssen zu finden, unterstützt vom Golfstrom. Während dieser Reise entwickeln sich die Fischlarven zu den fast durchsichtigen Glasaalen. Ausgewachsene weibliche Aale können bis zu einem Meter lang und armdick werden. Die Männchen sind etwas kleiner.

Seit 1990 ist der Aalbestand um über drei Viertel zurückgegangen. Die Gründe sind vielfältig – so werden die Tiere etwa als Delikatesse geschätzt, Wehre und Schleusen behindern ihre Reise, zudem sterben größere Aale oft beim Versuch, Wasserkraftwerke zu durchwandern.

Das Regierungspräsidium Stuttgart fördert die Durchgängigkeit der Murr: So sollen voraussichtlich bis Herbst dieses Jahres das Zeller und das Biegelwehr beseitigt beziehungsweise in eine raue Rampe mit neun Ausruhbecken umgestaltet werden. Beim Bleichwiesenwehr ist bereits eine Fischtreppe vorhanden, die ebenfalls in eine raue Rampe umgewandelt werden wird. Dies ermöglicht einen besseren Aufstieg für Fische. Im Innenstadtbereich der Murr soll zudem eine Ausgleichsstrecke geschaffen werden, um gute Lebensbedingungen für Fische, Wasservögel und sonstige Kleinlebewesen zu bieten. Das geschieht einerseits durch Strukturen im Wasser, die die Strömung stören und so für das Entstehen von abwechslungsreicheren Lebensräumen sorgen, die sogenannten Buhnen, sowie Totholz.