„Wir leiden immer mit viel Tränen“

Nach euphorischem Beginn hat die portugiesische Fußballfangemeinschaft keinen Grund mehr zur Freude. Im Backnanger Restaurant Portugal durchleben Portugiesen und Deutsche beim EM-Gruppenspiel ihrer Teams ein Wechselbad der Gefühle.

„Wir leiden immer mit viel Tränen“

Riesig ist der Jubel beim portugiesischen Führungstor. Die mitreißende Stimmung ist der Grund, weshalb auch immer viele deutsche Fans zum Fußballgucken ins „Portugal“ kommen. Fotos: T. Sellmaier

Von Heidrun Gehrke

BACKNANG. Eiskaltes portugiesisches Bier und viel Wasser braucht’s zum Durchhalten, um bei tropischen Temperaturen ein Abseitstor der Deutschen und dann zwei Eigentore der Portugiesen zu ertragen. Puh, was geht denn hier ab. Endstand aus portugiesischer Sicht 2:4 – nein, das stand so nicht auf dem Wunschzettel. Die portugiesischen Fans haben sich Fußballparty gewünscht, die toll mit Portugalfahnen dekorierten Fahrzeuge standen parat für den Autokorso, aber der fiel für sie aus.

Die Stimmung alles andere als fahnenschwingend für die portugiesische Community, die in der EM-Lounge hinter dem Restaurant Portugal ihrer Elf beim Verlieren zusehen muss. Alles bibbert vor Spannung und fächert sich Luft zu, ein Fan wischt sich den Schweiß mit dem Portugal-Shirt von der Stirn. Eigentor. What?! Einem Herrn, gerade noch euphorisch dem frühen Ronaldo-Tor zuprostend, frieren die Kaubewegungen beim Verspeisen eines mit portugiesischem Schweinefleisch gefüllten Brötchens ein. Zweites Eigentor. Was ist denn heute los.

Nach dem Führungstor ein Meer aus roten T-Shirts und Fahnen.

Da kann einzig die Resthoffnung siegen: „Wir können leiden, wir leiden immer mit viel Tränen und Schwitzen“, sagt Zuschauerin Betina Parente aus Stuttgart. Mitten im Getümmel ist auch für sie die Welt zunächst noch in Ordnung. Nach dem 1:0 lässt sie Pommes, Handy, Wasser stehen, hüpft vom Stuhl auf und kreischt mit. „Jetzt wird’s laut“, sagt sie. Ronaldo schießt mal wieder das Tor, Jubel für den erlösenden Führungstreffer. Alles springt euphorisch in die Höhe, und schon ist es da: Ein Meer aus roten T-Shirts, Freude tanzende Fans vor den Bildschirmen, wehende Portugalfahnen. Für einige Momente kocht jene pulsierend-mitreißende Stimmung hoch, die immer bei Portugal-Spielen auch viele deutsche Fans hierherzieht zum Fußballgucken. Für viele sind die ausrastenden, Freudentänze veranstaltenden Portugiesen mindestens genauso guckenswert wie die sportlichen Zweikämpfe und weiten Flanken auf dem Rasen. „Eine ganz andere Atmosphäre, die kriegt man in keiner Kneipe“, sagt Zuschauer Kurt Mayer. „Normalerweise sitze ich hier immer mit meiner Portugalmütze, die mir ein Portugiese hier mal geschenkt hat“, sagt der knapp 80-Jährige aus Backnang. „Aber heute bin ich für die Deutschen, da bleibt die Mütze natürlich daheim.“

Es steht inzwischen 2:1 für Deutschland. Doch so richtig von den Sitzen hauen will das keinen der deutschen Fans. Am Tisch mit den Schwarz-Rot-Gold-T-Shirts rasseln nur kurz die handtellergroßen Rätschen in den Nationalfarben, die beiden Eigentore sind halt nicht wirklich echt.

Richtig echt ist die tropisch heiße Hitze, gegen die mit eiskaltem Wasser und Super Bock fleißig angetrunken wird. Die angesagte Abkühlung mit Regen und Gewitter kommt nicht, stattdessen hagelt es Tore – nur halt nicht für Portugal. Einer ruft „Der wird es rumreißen“, als Stürmer Rafa für Carvalho der Partie mehr Offensivkraft bringen soll. Doch es kommt nicht mehr viel. Die beschlagenen Flaschen und Gläser gehen zum kollektiven „Prost“ nur noch einmal kurz in die Höhe, am Ende der zweiten Halbzeit fällt das zweite Tor für Portugal, das war’s dann mit „Hooray“.

Trotzdem bleibt’s fröhlich: „Wir sind immer gut drauf beim Fußballschauen, egal wer ein Tor schießt, wir jubeln auch für den Gegner“, sagt Vitor Sampaio, der Wirt und Inhaber des Restaurants Portugal. Bei ihnen überwiege ohnehin und losgelöst von Toren die Freude, Außenterrasse und Hof voll zu haben mit Fußballfans. Die Gastroprofis legen ein Tempo und einen Arbeitsschub vor, das die Herren Profikicker in der Partie streckenweise vermissen lassen. „Jetzt war monatelang nichts, jetzt geht es von 0 auf 180“, meint Köchin Natalia Sampaio, in beiden Händen Stapel mit leeren Tellern, die sie draußen unentwegt abräumt. Die ganze Familie hilft mit, fast eine elfköpfige Truppe, wie sie nach kurzem Durchzählen aller Kinder, Geschwister und Verwandten meint. Nachmittags hätten sie noch eine Taufe gehabt, jetzt gehen sie in die zweite Halbzeit, haben immer noch Energie, um außen an den Tischen zu bedienen und auf Selbstbedienung zu verzichten. „Wir waren schnell wieder im eingespielten Rhythmus, geben jetzt wieder Vollgas und freuen uns auf unsere Gäste“, so die Chefin. Während sie in Küche und am Getränkeausschank rödeln und die Fußballer nichts mehr hinbekommen, wird am Getränkeausschank gehirnt. Warum läuft das Spiel nicht richtig? „Es hat so viele junge Spieler, die haben Biss, aber die dürfen nicht, es kommen immer nur dieselben aufs Feld“, äußert sich Rui über die Trainerentscheidung. „Fünf Defensivspieler, das ist zu viel“, kommt die fußballkennerische Analyse von Julien ums Eck. Verlieren sei voll okay, „aber doch nicht so“, meint ein Dritter. „Die Deutschen sind zu gut“, kürzt ein portugiesischer Fan die Analyse ab. Und wie stehen die Chancen, schafft Portugal den Einzug ins Achtelfinale? „Möglich ist es noch, aber wird schwer“, meint Diogo.

„Wir leiden immer mit viel Tränen“

Lange Gesichter gab’s am Ende für die Fans der portugiesischen Mannschaft. Jetzt heißt es hoffen.