„Wir müssen das Heft in die Hand nehmen“

Das Interview: Altbürgermeister Walter Schmitt blickt auf seine Erfahrungen während der Kommunalreform vor 50 Jahren zurück. Meist waren keine Widerstände zu überwinden. Und wenn doch, dann wurden die Kritiker gefragt: „Was macht ihr, wenn es von oben angeordnet wird?“

„Wir müssen das Heft in die Hand nehmen“

Die Mindestvorgabe von 8000 Einwohnern für die neuen Gemeinden war in der Fläche überzogen. Das haben die Verantwortlichen laut Walter Schmitt schnell eingesehen. Foto: A. Becher

Rems-Murr. Die Gemeindereform vor 50 Jahren brachte einen tiefen Einschnitt in die überkommenen Strukturen des dörflichen Lebens. Walter Schmitt war damals einer von denen, die das Reformprojekt vor Ort umsetzten. Heute erinnert sich der 82-jährige frühere Bürgermeister an die Umstände dieser Zeit und an die Schwierigkeiten, die den Prozess begleiteten.

Herr Schmitt, wie stellte sich die Situation der Gemeinden damals dar?

Im Kreis Backnang gab’s den OB in Backnang; dann gab’s Julius Zehender in Oppenweiler, Walter Klenk in Kirchberg, Willy Ehnis in Sulzbach, Erich Schneider in Burgstall, Albert Herrmann in Gaildorf, Fritz Ehrmann in Murrhardt und einige andere als Fachbürgermeister. Den Landgemeinden ohne Fachbürgermeister stellte das Landratsamt einen Beamten zur Seite – das war Karl Euerle.

Welche Probleme waren in den Gemeinden zu bewältigen?

Von Umweltschutz sprach damals noch kein Mensch, aber Euerle hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Er sagte: Dass jeder seinen Dreck in den Bach hinauslässt, hört auf. So hat man 1961 den Zweckverband Abwasserklärwerk Weissacher Tal gegründet – mit den Gemeinden vom Tal, ohne Sechselberg und Althütte. Das war ein Meilenstein. Nun erst konnte in den Landgemeinden eine bauliche Entwicklung entstehen. Ohne eine Einzelkläranlage zu bauen, hat man vorher ja gar keine Baugenehmigung bekommen, und diese Kläranlage hat so viel gekostet wie das halbe Haus. Parallel dazu – Wasser hatten wir ja auch keines – hat man den Wasserverband Weissacher Tal ins Leben gerufen. Gleichzeitig hat sich die NOW – der Zweckverband Wasserversorgung Nordostwürttemberg, dessen Vorsitzender ich später 16 Jahre lang war – nach Backnang ausgeweitet. In meinen Augen ein Glücksfall. Backnang hatte ja selbst kein Wasser. Als ich 1961 nach Backnang kam, musste ich in der Herderstraße von meiner Wohnung aus hin und wieder mit Eimern Wasser holen, das die Feuerwehr ausgefahren hat. Als Backnang dann Bezugsrechte bei der NOW anmeldete, wurden auch die Gemeinden in der Umgebung für die NOW interessant. Damit hatte sich der Wasserverband Weissacher Tal überlebt.

Fürs Bildungszentrum hat man sich damals im Weissacher Tal ja auch zusammengetan.

Der Gedanke an ein Schulzentrum kam von Wilhelm Schadt, dem Bürgermeister von Allmersbach, Oberweissach und Bruch. Er hat übrigens Folgendes zustande gebracht: Als der Landtag die Gemeindeordnung änderte und unterband, dass ein Nichtfachmann als Bürgermeister mehrere Gemeinden hatte, rief Schadt den Staatsgerichtshof an – und obsiegte. Jedenfalls: Walter Sipple von Althütte, Wilhelm Schadt, Karl Auktor von Unterbrüden und ich kamen mit Schulrat Heinkelein bei mir im Rathaus in Lippoldsweiler zusammen. Bei diesem Treffen erklärte Schadt: Wir müssen eine gemeinsame Schule machen, und die Schule muss ins Seegut hinein. Heinkelein sprang darauf an und schuf die Verbindung zum Kultusministerium. Dann schalteten wir Egon Halter, den Bürgermeister von Cottenweiler und Unterweissach, mit ein, weil wir ja wussten: Das ist seine Markung. Und es war klar: Wenn wir einen Verband gründen, dann müssen wir ihn zum Vorsitzenden machen. Wir hatten auch das sagenhafte Glück, dass Ministerialdirektor Paul Harro Piazolo an uns einen Narren gefressen hatte. Er sagte: Jawohl, das ziehen wir durch. Ihm haben wir diese Schule zu verdanken.

Wie standen Sie und die anderen Bürgermeister zur Gemeindereform?

Wir standen der Sache offen gesagt etwas skeptisch gegenüber. Wir hatten die Sorge, dass eine Mittelpunktgemeinde sich einfach mit den Gemeinden drumherum anreichern würde. Die Entscheidung der Landesregierung war aber unumstößlich.

Was hat Sie dann bewogen, die Entwicklung doch zu forcieren?

Ich kannte den späteren Ministerpräsidenten Lothar Späth gut, er war mit mir Kanzleigehilfe in Mergentheim – ich im dritten, er im fünften Jahr. Inzwischen war er Erster Bürgermeister in Bietigheim und Landtagsabgeordneter und ein starker Mann in der CDU. Ich zeigte ihm eine Karte mit den Tälesgemeinden. Er sagte: „Das mit euren Gemeinden hat keine Zukunft.“ Von diesem Besuch zurück wusste ich: Jetzt müssen wir angreifen und das Heft selbst in die Hand nehmen. Das war etwa 1969, 1970. Wir wandten uns dann an die Kommunalaufsicht im Landratsamt, den Herrn Holzwarth, er war auf unserer Seite.

Wie ging es dann weiter?

Mit dem Landratsamt zusammen teilten wir das Weissacher Tal auf: Heutensbach gehört zu Allmersbach; Unterweissach, Oberweissach, Cottenweiler, Bruch, das wäre eine Sache für sich, wobei die Brucher zuerst noch Richtung Lippoldsweiler dachten, aber das zerschlug sich schnell. Unterweissach ging erst noch auf Unterbrüden zu, Backnang auf Oberbrüden. Ich ging auf Ebersberg zu und wurde 1968 auch dort Schultes. Die Unterbrüdener waren sicherlich der Wackelposten. Wenn Unterbrüden nach Unterweissach gegangen wäre, dann hätte es kein Auenwald gegeben. Denn dann wäre Oberbrüden auch weg gewesen. Klar war: Unterweissach ist Zentrum, da beißt keine Maus einen Faden ab. Aber uns da hinten hätten sie aushungern lassen können. Und jetzt zu Sechselberg. Ich habe damals die These vertreten: Talgemeinden gehören zusammen und Berggemeinden gehören zusammen, also Sechselberg und Althütte – auch wenn von alters her in Sechselberg die Herrenbauern und in Althütte die Rechenspitzer waren. Das alles haben Landratsamt und Regierungspräsidium in der Freiwilligkeitsphase dann abgesegnet.

Aber wie passt das zu der Vorgabe, dass die neuen Gemeinden mindestens 8000 Einwohner haben sollten?

Das geht, wenn es drei Gemeinden mit je 3000 Einwohnern sind. Aber wenn es Flecken mit, angefangen, 150 sind, dann ist diese Mindestzahl überzogen. Das haben sie in Stuttgart auch relativ schnell eingesehen. Klar gab es eine Wunschvorstellung. Aber wir waren voraus. Wir wussten: Wenn wir bei der Gestaltung mitsprechen können, haben wir gewonnen.

Wie groß war der Druck aus Stuttgart, dass die Gemeinden fusionieren sollten? Wie freiwillig erfolgten die Zusammenschlüsse?

Bei uns hat man keinerlei Zwang ausüben müssen. Und mit Stuttgart hatten wir eigentlich keine Verbindung. Das lief alles übers Landratsamt. Aber sich zu verkaufen, das war durchaus in den Köpfen. Da hat man schon gehandelt. Bei mir, im Bereich Lippoldsweiler, stand im Vordergrund eine Halle. Das hatte ja keiner – und eine schöne Halle hatte für alle einen Wert. Dann ging es auch um Kindergärten – mit Backnang zusammen entstanden damals zehn Kindergärten, je einer auch in Oberbrüden, Unterbrüden und Lippoldsweiler.

Wie nahm die Bevölkerung den Reformprozess auf? Welche Widerstände waren zu überwinden?

Es waren in Unterbrüden und Lippoldsweiler kaum Stimmen dagegen. Gut, der eine oder andere. Ihnen hat man gesagt: Was macht ihr, wenn es von oben angeordnet wird? Das Eingemeindungsgeld hätten wir dann ja nicht mehr gekriegt. Wenn es einen gewissen Widerstand gab, dann in Oberbrüden. Das war zu dem Zeitpunkt die Gemeinde, die im Grunde alles hatte: einen Bäcker, einen Metzger, drei Wirtschaften, ein Milchhäusle. Und Vereine: den Gesangverein, dem die Sängerhalle gehörte, und den TSV Oberbrüden. Das war ein in sich funktionierendes Gemeinwesen, aber von der Größe her nicht ausreichend. Oberbrüden konnte aber nichts dazugewinnen, und an Steinbach, das schon in den Vierzigerjahren eingemeindet wurde, sah man, dass dort nicht viel lief. Daher die Einsicht: In Backnang kann es uns nicht besser gehen, und zu sagen haben wir dort gleich zweimal nichts mehr. Es gab also keine Alternative zu Auenwald. Und dieser Halbmond zwischen Oberbrüden und Ebersberg passte, wie wir meinten, gut in die Landschaft.

Wie beurteilen Sie die Reform aus heutiger Sicht – war sie ein gelungenes Werk oder ist sie Stückwerk geblieben?

Ich habe ja die Gemeinde Auenwald noch zehn Jahre erlebt. Ich meine, in diesen zehn Jahren ist einiges gemacht worden, das dem Zusammenwachsen gedient hat: Abwasserbeseitigung, Wasserversorgung, die Gemeindehalle in Unterbrüden, die Schulturnhalle in Hohnweiler. Das, was wir versprochen hatten, haben wir gehalten. Das waren sicher vertrauensbildende Maßnahmen. Aber bei einer Gesamtbeurteilung muss man die Kreisreform miteinbeziehen, und dort hat die Große Koalition meines Erachtens einen entscheidenden Fehler gemacht: Den ländlich geprägten Landkreis Backnang hat man mit dem Remstal zusammengeworfen – dieses war aber ganz anders strukturiert.

Das Gespräch führte Armin Fechter

Walter Schmitt

1939 geboren in Creglingen.

1961 Abschluss an der Staatlichen Verwaltungsschule in Stuttgart. Beginn der Tätigkeit im Landratsamt Backnang, verantwortlich für das Aufgabengebiet Wasserrecht, später auch für das Kreisjagdamt.

1965 Wahl zum Bürgermeister der Gemeinde Lippoldsweiler, später auch von Ebersberg.

1971 Wahl zum Bürgermeister der neu gebildeten Gemeinde Auenwald, 1979 Wiederwahl.

1981 Wahl zum Ersten Bürgermeister der Stadt Backnang mit Wiederwahlen bis zum Eintritt in den Ruhestand.

Langjähriges Engagement als Vorsitzender des Zweckverbands Wasserversorgung Nordostwürttemberg, Kreisrat in der FDP/FW-Fraktion, Kreisjägermeister der Kreisjägervereinigung Backnang, Vorsitzender der DRK-Ortsvereine Auenwald, dann Backnang, Stiftungsvorstand der Stiftung Altenheime Backnang und Wildberg.