Wohl keine räuberische Erpressung

Erste Zeugenaussage im Verfahren gegen drei Brüder vor Gericht – Vorfälle stellen sich anders dar

Wohl keine räuberische Erpressung

War es nun räuberische Erpressung oder nicht? Das Backnanger Amtsgericht hat es derzeit mit einem undurchsichtigen Fall rund um das Schleusermilieu zu tun. Symbolfoto stock.adobe/ge.stoeber

Von Hans-Christoph Werner

STUTTGART/BACKNANG. Der zweite Verhandlungstag in dem Verfahren gegen drei junge Männer im Alter von 19 bis 25 Jahren war ganz der Vernehmung eines Zeugen gewidmet. Bei der Verhandlung steht räuberische Erpressung im Raum. Die Angeklagten hatten beim Prozessauftakt erklärt, dass sie sich zu den Vorwürfen nicht äußern wollen. So wurde durch die Zeugenvernehmung in groben Konturen das Geschehen deutlich, das den jungen Herren zur Last gelegt wird.

Die Zeugenvernehmung gestaltet sich zäh und langwierig. Trotz Dolmetscher scheint der Zeuge nicht immer zu verstehen, was die Richterin fragt. Zum anderen wird er bei Nebensächlichkeiten ausführlich. Der Zeuge, ein 25-jähriger Kommissionierer, trifft im Oktober 2018 mit dem Angeklagten Samir (Name geändert) irgendwo in Bosnien zusammen. Beide haben dasselbe Schicksal. Sie sind Flüchtlinge und wollen nach Mitteleuropa. Samir hat allerdings einen gewissen Kenntnis- oder Kontaktvorteil. Schließlich hat keiner der Flüchtlinge, die auf der sogenannten Balkanroute unterwegs sind, einen Satz Wanderkarten zum ehemaligen Jugoslawien dabei. In welcher Richtung liegt Mitteleuropa?

Geschäftstüchtige Männer haben sich kundig gemacht und bieten ihre Dienste an. 600 Euro kostet es, mal zu Fuß und mal mit dem Auto dem Ziel näher zu kommen. Der Kommissionierer ist bereit zu zahlen und Samir nimmt das Geld entgegen. Das heißt: Der Kommissionierer ist mit seinem Bruder unterwegs, macht zusammen 1200 Euro. Aber der 25-Jährige hat nur 1000 Euro. Man einigt sich darauf, dass der Rest, wenn das Ziel Deutschland erreicht ist, nachgereicht wird. Ist nun Samir ein Schleuser? Oder ist er nur Handlanger für die graue Eminenz im Hintergrund, einen gewissen Abu J.? Oder ist es gar ganz anders gewesen? Wollte vielleicht Samir dem Landsmann helfen, weil der Kommissionierer aus demselben Landstrich wie er kam, und streckte 200 Euro aus eigener Kasse vor? Dank per Handy übermittelter Geo-Daten gelangt der Kommissionierer wohlbehalten nach Deutschland.

Samir will das Geld nun endlich sehen

Samir auch. Just in Backnang sieht man sich im Dezember 2018 wieder. Verständlich, dass Samir das ausstehende Geld sehen will. Der Kommissionierer bittet um Zahlungsaufschub. Ferner verspricht er sich eine Lösung in der Angelegenheit, indem er nochmals Kontakt mit der grauen Eminenz im Hintergrund aufnehmen will. Ob es dazu kam, bleibt unbekannt. Im Januar 2019 fragt Samir erneut nach dem Geld. Um Eindruck zu machen, hat er zwei weitere Herren mitgebracht. Sind es seine beiden Brüder?

Es bleibt unklar. Als sich der Kommissionierer erneut herausredet, schlägt ihm Samir ins Gesicht. Das Nasenbein ist gebrochen. Der Kommissionierer erstattet Anzeige. Einen Monat später die nächste Begegnung. Yusuf (Name geändert), tritt an den Kommissionierer heran. Auf beiden Seiten sind noch weitere Personen zugegen. Diesmal holt sich Yusuf eine blutige Nase. Weitere vier Wochen später: zum Dritten. Begegnen Samir und Yusuf dem Kommissionierer zufällig oder haben sie ihn abgepasst? Es bleibt unklar. Von den ausstehenden 200 Euro sehen die beiden Brüder wieder keinen Cent. Dafür gibt’s für den Kommissionierer eine Kopfnuss, einen Schlag ins Gesicht und einen Tritt. Und schließlich die Begegnung in Schorndorf. Beim Jobcenter trifft man zusammen. Samir soll dabei den Bruder des Kommissionierers geschlagen haben. Ferner habe er ein Messer verloren, es wieder aufgehoben und bei der Gelegenheit drohend damit herumgefuchtelt. Zu diesem letzten Vorfall sind die Angaben des Zeugen dürftig. Die Vernehmung des Zeugen wird durch eine kurze Pause unterbrochen.

Als die Prozessbeteiligten wieder zusammenkommen, rüffelt die Vorsitzende Richterin erst einmal den Verteidiger von Ahmed. Der Verteidiger hat sich in der Pause mit dem Zeugen in Arabisch, ihrer beider Muttersprache, unterhalten. Der Verteidiger erklärt, dass der Zeuge in einem anderen Verfahren sein Mandant ist. Die Richterin bleibt dabei. Die Angelegenheiten seien zu trennen. Dazu die nächste Überraschung: Der Bruder des Kommissionierers, unter derselben Adresse wohnend, ebenfalls als Zeuge für den Verhandlungstag geladen, erscheint nicht. Die Vorsitzende Richterin zieht eine erste Bilanz. Ahmed, der älteste der Angeklagten, scheint in die Sache nicht verwickelt. Sein Verteidiger reagiert prompt und beantragt Aufhebung des Haftbefehls. Das will das Gericht in den nächsten Tagen entscheiden. Zum anderen macht die Vorsitzende Richterin eine inhaltliche Bemerkung. „Die Anklage entwickelt sich nicht wie in der Anklageschrift vorgelegt“, sagt sie. Die Anklage gegenüber den Brüdern lautete auf räuberische Erpressung. Nach den Aussagen des ersten Zeugen könnte es sich auch um ein Schleusergeschäft gehandelt haben. Die ausstehenden 200 Euro könnten Samir zugestanden haben.