Wohnen auf Höhe der Baumkronen

Zwei Bauprojekte in fortgeschrittenem Stadium zeigen, was das Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum in Backnang-Schöntal möglich macht. Bei der Stadt hofft man, mit kontinuierlich guten Beispielen eine behutsame Dorfentwicklung zu erzielen.

Wohnen auf Höhe der Baumkronen

Wollen den alten Bestand der Scheune, die sie zu Wohnungen umbauen, in Teilen erhalten: Andreas Enssle (links), seine Schwester Elena (rechts) und ihr Mann Markus Kurz erläutern Andrea Gromball von der Stadtverwaltung Backnang, dass alte Balken und Mauern bei ihrem Bauprojekt am Ortseingang von Oberschöntal konserviert werden sollen. Fotos: A. Becher

Von Nicola Scharpf

BACKNANG. Wenn Birgit Wildermuth auf der Dachterrasse ihres demnächst bezugsfertigen neuen Zuhauses steht, könnte sie dem Ehepaar Kurz, seinerseits auf dem Balkon des mitten im Umbau befindlichen Hauses stehend, zuwinken. Die Luftlinie zwischen dem Bauprojekt Wildermuth in Mittelschöntal und jenem der Familien Kurz und Enssle in Oberschöntal ist zwar so, dass das Winken aufgrund der Entfernung nicht unbedingt erkennbar wäre, aber die Sicht ist frei und unverstellt. Die beiden Häuser mit der Holzverkleidung verbindet, dass sie jene beiden Projekte sind, die für das Programmjahr 2019 eine Förderzusage des Landes im Rahmen des Entwicklungsprogramms Ländlicher Raum (ELR) erhalten haben. Sie haben das ELR nach Schöntal gebracht, nachdem Vorhaben aus dem Backnanger Stadtteil in den drei Jahren zuvor abgelehnt worden waren. Von daher sind die beiden Projekte auch Vorbild: Die Intention der Stadt ist, über solch gute Beispiele weitere Interessenten anzuregen. „Kontinuierlich gute Beispiele wären wichtig“, sagt Tobias Großmann, Leiter des Stadtplanungsamts.

An diesem Morgen zeigt sich die Schöntaler Dorfidylle wie aus dem Bilderbuch: Die Sommersonne strahlt, die Vögel konzertieren, die Grillen zirpen, saftiges Grün von Bäumen, Blumen und Wiesen im Überfluss. Wenn Birgit Wildermuth das Fenster im Dachgeschoss ihres Mehrgenerationenhauses öffnet, ist sie auf Augenhöhe mit dem dichten Blattwerk der alten, Schatten spendenden Linde im Vorgarten. Auf der anderen Seite des Hauses ist es der Walnussbaum mit seiner ausladenden Krone, der für Naturnähe sorgt. Der alte Baumbestand auf dem hangabwärts gelegenen Nachbargrundstück tut dazu sein Übriges. Wo Familie Wildermuth ihr ins Grün gebettete Zuhause voraussichtlich im August beziehen wird, stand vor einem Jahr noch eine Scheune. Sie war Teil eines Gebäudeensembles, das einstmals ein zusammengehörendes, landwirtschaftliches Anwesen in Besitz von Wildermuths Vorfahren bildete. 1980 brannte die Scheune ab und Wildermuths Mutter baute sie danach wieder auf. Die Idee, die Scheune in ein Wohnhaus zu verwandeln, hat Wildermuth seit Jahren. 2016 stellt die Stadt Backnang für das Bauvorhaben den ersten Antrag auf Aufnahme ins ELR, der nicht positiv beschieden wird. Drei Jahre später klappt es dann. „Frau Gromball ist unermüdlich an mir drangeblieben“, sagt Birgit Wildermuth über Andrea Gromball vom Liegenschaftsamt. „Den Anstoß von außen, den braucht man schon, das muss ich zugeben.“ Das ELR bezeichnet sie als „tolle Unterstützung“. Von der ursprünglichen Scheune ist außer der Bodenplatte und ein paar Wänden nichts übrig geblieben.

„So lässt sich mit Vorhandenem etwas Neues schaffen.“

„Das ist nicht wie in der Denkmalpflege“, sagt Tobias Großmann. „Mit dem ELR ist man flexibler. Dennoch fügt sich das Gebäude wunderbar ein, die Ensemblewirkung ist noch vorhanden. So lässt sich mit Vorhandenem etwas Neues schaffen.“ Im Mehrgenerationenhaus Wildermuth, der Anbau errichtet in Holzständerbauweise, sind das drei Wohnungen und eine Gewerbeeinheit. Laut der Eigentümerin habe sich positiv auf die Entscheidung des Fördergebers ausgewirkt, dass Fotovoltaik zum Einsatz kommt und dass das Haus mit Hackschnitzeln aus „eigenem“ Holz, das in Oberschöntal gehäckselt wird, beheizt wird. Nach ihrem Schulabschluss hat Birgit Wildermuth Schöntal verlassen. Nun kehrt sie, rund 45 Jahre später, in ihr Heimatdorf, auf das geerbte Grundstück, zurück.

Auch im Oberschöntaler Beispiel reichen die Überlegungen der Eigentümerfamilie, was sich mit der markanten Scheune aus dem Jahre 1900 am Ortseingang von Aspach kommend hinsichtlich Aus- und Umbau machen ließe, bis 2016 zurück. Nachdem das ELR laut Großmann damals überzeichnet ist und ländlicher Raum im Verdichtungsgebiet – so wie Schöntal – nicht im Fokus der Programmverantwortlichen liegt, gibt es bis 2018 ablehnende Bescheide. Die positive Entscheidung fällt 2019 im Nachrückverfahren. Wenn es gut vorwärtsgeht, können Andreas Enssle und seine Schwester Elena Kurz mit ihrer Familie ihre Wohnungen im Herbst beziehen. Trotz des Baustellenflairs lässt sich bereits erkennen, dass hier etwas mit Charme entsteht. „Was vom alten Bestand schön ist, wollen wir erhalten und sichtbar machen“, sagen Andreas Enssle und sein Schwager Markus Kurz, die sich in Teamwork organisatorisch und mit viel Eigenleistung auf der Baustelle einbringen. Alte Balken bleiben sichtbar, Glaselemente sollen im Eingangsbereich den Charakter der Scheune erhalten und das alte Mauerwerk wird von außen gedämmt und mit Holz verkleidet. „Der Bestand dahinter ist konserviert“, so Kurz. „Ich bewundere die Menschen, die das vor 100 Jahren gebaut haben“, sagt Enssle. Die zwölf Meter langen Balken seien alle nummeriert und wohl nach einem Steckbausystem verbaut worden. Wichtig ist den beiden Baufamilien, dass die Fassade des neu errichteten Anbaus jener des Bestandsgebäudes ähnelt, aber nicht gleicht. Mit der vorhandenen Substanz zu arbeiten, statt abzureißen: Bauen dauert auf diese Art länger und braucht mehr Geduld. Dafür ist der ursprüngliche Charakter wiedererkennbar.

An einer solch „behutsamen Dorfentwicklung“, wie Tobias Großmann sagt, ist auch dem Schöntalforum gelegen, das sich als Mittler zwischen den Schöntalern und der Stadt sieht. Martina Muck vom Schöntalforum liebt die dörfliche Idylle und hofft, dass ältere Häuser erhalten bleiben oder dass neue Gebäude so errichtet werden, dass sie in den ländlichen Rahmen passen. Die Bürger hätten erkannt, dass sich das ELR lohne. „Es gibt unheimlich viel Potenzial.“ Was in Schöntal nur zum Teil dem ELR geschuldet ist: „Die Innenentwicklung nimmt Fahrt auf“, so Großmann. Es entstehen neue Häuser, Baulücken werden geschlossen. In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl der Schöntaler um 71 Personen auf 406 Einwohner gestiegen. Das entspricht 17,5 Prozent Zuwachs – etwas mehr als der Wert in der Gesamtstadt.

Zwischen Bauwilligen, der Stadtverwaltung und dem Fördergeber müsse das Timing stimmen, sagt Großmann über wesentliche Voraussetzungen, die zu einer erfolgreichen ELR-Förderung nötig sind. Mehrere Anläufe für ein Vorhaben seien nicht ungewöhnlich. Für das Programmjahr 2020 hat es beispielsweise zwei Anträge gegeben, von denen ein Projekt positiv entschieden, das andere zurückgezogen wurde. Im Programmjahr 2021 wurde der Antrag eines Schöntaler Vorhabens nicht positiv entschieden, hier hofft man auf das Nachrückerverfahren. Zu den Zukunftsvorhaben gehört, die Ortsdurchfahrt Oberschöntal, für die es eine Machbarkeitsstudie gibt, planerisch weiterzuentwickeln und ein Öffnen des Alten Schulhauses in Unterschöntal, das der Städtischen Wohnbau gehört, im Rahmen des ELR planerisch anzugehen. Allerdings ist der öffentliche Raum im ELR zurückgestellt worden. Die Förderkriterien werden an gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen angeglichen. Seit auch auf dem Land Wohnraum Mangelware ist, wird neuer, zeitgemäßer Wohnraum besonders intensiv gefördert.

Die ELR-Förderung

Die Fördersätze variieren aufgrund der Verwaltungsvorschrift und beihilferechtlicher Vorgaben sehr stark. Die Förderung liegt zwischen 10 und 75 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten. Wenn gefördert wird, beträgt die Fördersumme mindestens 5000 und maximal 750000 Euro.

Bei der grundlegenden Modernisierung von eigengenutzten Wohngebäuden beträgt die Förderung beispielsweise bis zu 20000 Euro pro Wohneinheit, der Fördersatz beträgt 30 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten.

Seit 2019 gibt es einen Förderzuschlag, wenn Baumaßnahmen vorwiegend mit CO2-speichernden Materialien in der Tragwerkskonstruktion durchgeführt werden. Diese zusätzlichen 5-Prozent-Punkte werden vorwiegend bei der Verwendung von Holz vergeben.

Die Förderanträge müssen den Gemeinden Anfang bis Mitte September vorliegen, die Programmentscheidung erfolgt meist im Februar des Folgejahres. Sind die Unterlagen zu diesem Zeitpunkt komplett, erfolgt die Bewilligung in wenigen Wochen. Quelle: Ministerium für Ländlichen Raum