Zeitreise in die Jahrhundertwende

Die Rentenversicherung verlässt das imposante Gebäude an der Rotebühlstraße 133 und zieht komplett nach Freiberg

Von Torsten Schöll

Es ist eines jener Gebäude, die fast jeder Stuttgarter kennt. Der 118 Jahre alte Bau birgt manche Überraschung: Glasreliefs, Säulen im Treppenhaus, eine Bar sowie eine Telefonkabine im Konferenzsaal.

Stuttgart Wer vor dem kolossalen neobarocken Gebäude in der Rotebühlstraße 133 den Kopf in den Nacken legt und entlang der Prunkfassade mit ihren korinthischen Säulen den Blick hinauf in den zweiten Stock richtet, erkennt dort oben eine Reihe von Zierköpfen mit rätselhaftem Haarschmuck: eines der meist weiblichen Häupter trägt eine Eule, ein weiteres ein Schiff, eine Mitra ist zu erkennen oder eine Eisenbahn.

Das Rätsel um die kuriosen Gestalten ist aber schnell gelüftet: „Die Landesversicherungsanstalt Württemberg hat mit diesen ­allegorischen Zierköpfen die wichtigsten Städte in ihrem Amtsbereich gewürdigt“, klärt Martin Pozsgai auf: Die weise Eule symbolisiert Tübingen, das Schiff die Bodenseestadt Friedrichshafen. Der Architekturhistoriker der TU Darmstadt hat sich im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg in den letzten Monaten intensiv mit dem stattlichen Amtsgebäude beschäftigt. Es wurde zwischen 1899 und 1901 vom Stuttgarter Architekten Louis Stahl errichtet. Ende April schließt die DRV ihren historischen Standort im Stuttgarter Westen endgültig. „Alle noch verbliebenen Beschäftigten ziehen in den Neubau nach Stuttgart-Freiberg um“, sagt DRV-Pressereferent Thomas Becker. Die architekturhistorischen Untersuchungen des Darmstädter Wissenschaftlers zum gesamten Gebäudekomplex in der Rotebühl-, Schwab- und Rötestraße sollen im Juni in einer internen Broschüre münden.

Architekturgeschichtlich aufzuarbeiten gibt es einiges in den zum Teil denkmalgeschützten Bauten: Ein Rundgang durch das Hauptgebäude an der Rotebühlstraße, direkt an der S-Bahn-Haltestelle Schwabstraße gelegen, gleicht einer Zeitreise. Viele architektonische Elemente im Innern des Bürogebäudes sind im Originalzustand ihrer jeweiligen Bauzeit verblieben: Das dreistöckige säulengetragene Treppenhaus zeigt den Zustand der Jahrhundertwende, während im Foyer, das in den 50er Jahren umgebaut wurde, Glasreliefs in den Fenstern Szenen aus dem Leben von Arbeiterfamilien darstellen. Im achten Stockwerk des 1954 fertiggestellten „Neubaus“ an der Ecke Rotebühl-/Schwabstraße versprüht ein holzverkleideter Konferenzsaal mit Erfrischungsbar den Charme der Wirtschaftswunderzeit. Dabei versetzen kleine Details den Betrachter in Staunen: Eine ausgepolsterte Telefonkabine direkt im Saal ermöglichte, während der Sitzungen dringende Ferngespräche zu führen.

Während der Hauptbau, der einst für damals stattliche 580 000 Mark errichtet wurde, sich von außen traditionell gibt, genügte das Innere 1901 modernsten Ansprüchen: elektrisches Licht, desinfizierende Abwasserreinigung, Niederdruckdampfheizung. „Im Anbau waren die Quittungskarten, die die Grundlage für die Berechnung der Renten waren, feuersicher untergebracht.“ Jene Quittungskarten wurden während des Zweiten Weltkriegs in sechs Luftschutzkellern unter dem Hauptgebäude und unter der Rötestraße 16 und 16a verwahrt. Noch heute sind in den Kellern die Stahltüren mit Aufschriften wie „Schutzraum 2 – 31 Personen“ vorhanden.

So stattlich der Gebäudekomplex heute noch wirkt, Platznot herrschte in der Rentenversicherungszentrale fast zu jeder Zeit. 1912/13 musste ein viergeschossiges Hintergebäude errichtet werden, der sogenannte Kartenbau. 1929 eine Ärztliche Abteilung in zwei Gebäuden in der Rötestraße. Bis 1950 war die Zahl der Mitarbeiter von 232 im Jahr 1910 auf 1362 gestiegen. Der Neubau mit Hochhausturm an der Schwab- und Rote­bühlstraße war die logische Folge sowie die Aufstockung des Altbaus.

Ende 2011 wurde der Gebäudekomplex an den Investor Ferdinand Piëch, Sohn des gleichnamigen ehemaligen VW-Aufsichtsratsvorsitzenden, verkauft. „Wir bündeln im Neubau in Freiberg alle unsere Aufgaben“, sagt Thomas Berger. Die Duale Hochschule Baden-Württemberg will laut DRV einen Teil des frei werdenden Raums samt Hauptgebäude als Mieter übernehmen. Die Zierköpfe an der prächtigen Fassade sind dann freilich nur noch rätselhaftes Dekor.