Zum neuen Jahr Böller und Schläge

Einer ganzen Familie wird in einem Strafverfahren gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Der Prozess wird eingestellt.

Zum neuen Jahr Böller und Schläge

Von Hans-Christoph Werner

BACKNANG. Die Verhandlung hat Seltenheitswert, steht doch eine ganze Familie vor dem Amtsrichter. Da ist Mutter Müller, 57 Jahre alt, des Weiteren ihr Ehemann, gleichen Alters und Taxifahrer von Beruf, dann Sohn A., 30 Jahre alt, er ist Maler, und Sohn B., 29 Jahre alt, von Beruf Einzelhandelskaufmann (alle Namen geändert). Weil sich das Geschehen bis zum Ende nicht aufklären lässt, wird der Prozess eingestellt.

Die Anklageschrift bezieht sich auf die Silvesternacht 2019/2020. Gemeinsam begibt sich Familie M. um Mitternacht vor die Haustür, um das neue Jahr mit Böllern und Raketen zu begrüßen. Dabei kommt es zum Streit mit Nachbar Schmidt. Gemeinsam wird dieser festgehalten und tüchtig verdroschen. Als dieser ins Haus flieht, kann man ihn dort noch einmal stellen und ihm eine zweite Lektion verpassen. Ergebnis: Herr S. erleidet eine Gehirnerschütterung und muss sich für drei Tage ins Krankenhaus begeben.

Dieser vom Staatsanwalt vorgetragenen Version des Geschehens widersprechen die Anwälte der Angeklagten heftig. So lässt Mutter M. ausrichten, S. habe angefangen, ihrem Mann eine Ohrfeige versetzt. Nach unten eilend habe sie im Treppenhaus dann den Schläger zur Rede gestellt, wodurch dann sie durch Herrn S. Prügel bezog. Ein komplizierter Schlüsselbeinbruch sei die Folge gewesen. Der Verteidiger für den älteren Sohn trägt den Anlass des Streits nach. Die gezündeten Böller wurden offenbar in die falsche Richtung geworfen. Davon fühlte S. sich in seinem Sicherheitsgefühl gestört. Auch Sohn A. weiß davon, dass S. die Auseinandersetzung mit einer Ohrfeige gegenüber Vater M. eröffnete. Der Vater habe dann nur, um sich zu wehren, zurückgeschlagen. Und insbesondere sei man dann der bedrängten Mutter M. im Treppenhaus zu Hilfe geeilt.

An den Feuerwerkskünsten ist nichts zu beanstanden gewesen.

Der Rechtsanwalt von Vater M. betont, dass an den Feuerwerkskünsten der Familie nichts zu beanstanden gewesen sei. S. habe mit einer Ohrfeige angefangen. Man habe ihn dann zurückgedrängt, sei der Mutter zu Hilfe geeilt. S. habe zudem einen der Söhne gewürgt. Der Rechtsanwalt des jüngeren Sohnes bestreitet jegliche Tatbeteiligung seines Mandanten.

Der laut Anklageschrift malträtierte S. wird in den Zeugenstand gerufen. Die Silvesterböller seien auf ihn geworfen worden. Deshalb habe er sich beschwert. Daraufhin sei er festgehalten und geschlagen worden. Allerdings kann er die Schläge keinem der Angeklagten zuordnen. In Todesangst sei er ins Treppenhaus geflohen, wurde aber auf den ersten Stufen von seinen Verfolgern der Familie M. erwischt, zu Boden gezogen und mit Fußtritten und Faustschlägen bedacht. Kurz sei er bewusstlos gewesen. Dass er selbst geschlagen habe, weist er weit von sich.

Eine Kanonade von Fragen der Verteidiger der Angeklagten muss S. über sich ergehen lassen. Wie viele Personen zu Beginn der Böllerei auf der Straße gewesen seien, wo die im Einzelnen gestanden hätten, welche Kleidung und so weiter. Auch in welcher Sprache man miteinander gesprochen habe, denn für beide Familie ist das Deutsche Zweitsprache. Die Antworten, die der Zeuge gibt, und auch die, die er schuldig bleibt, erhöhen nicht seine Glaubwürdigkeit. Auch zu den Angaben, die der Zeuge bei der Polizei machte, ergeben sich Unterschiede.

Die Ehefrau von S. kann bei ihrer Zeugenvernehmung nichts zur Erhellung der Vorgänge beitragen. Und ebensowenig einer der Polizisten. Nur das ist sicher: Keiner der Kontrahenten sei unter Alkoholeinfluss gestanden. Zwei weitere Zeugen werden noch gehört, ein Automechaniker, Freund von S., sowie die Ehefrau von Sohn A. Das Geschehen gewinnt nicht an Konturen.

Nach dreieinhalb Stunden will der Richter das Verfahren einstellen.

Nach dreieinhalb Stunden der mühsamen Wahrheitssuche listet der Richter die Widersprüche beziehungsweise die nicht geklärten Details des Geschehens auf und macht den Vorschlag – da beide Seiten ihre „Andenken“ an das Vorgefallene davongetragen haben –, das Verfahren einzustellen. Die Verhandlung wird unterbrochen, die Verteidiger der Angeklagten sprechen mit ihren Mandanten. Nach keinen zehn Minuten ist Einigung erzielt. Jeder der Verteidiger erklärt sich mit der Einstellung einig. Der Richter diktiert der Protokollantin den Beschluss. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse. Die Angeklagten sowie der Nebenkläger, Herr S., tragen ihre Ausgaben selbst. Alles in allem eine etwas kostspielige Silvesterfeier.

Symbolfoto: O. Akdeniz/stock.adobe