Bundestrainer Gislason: „Momentan gar nichts ausschließen“

Von Interview: Eric Dobias, dpa

dpa Frankfurt/Main. Vor knapp elf Monaten hat Alfred Gislason das Amt des Handball-Bundestrainers übernommen. Viel Zeit mit der Nationalmannschaft konnte er wegen der Corona-Krise seither nicht verbringen. Nun steht die WM als erste große Bewährungsprobe an.

Bundestrainer Gislason: „Momentan gar nichts ausschließen“

Vor knapp elf Monaten hat Alfred Gislason das Amt des Handball-Bundestrainers übernommen. Foto: Federico Gambarini/dpa

Am 13. Januar beginnt in Ägypten die Handball-Weltmeisterschaft. Bundestrainer Alfred Gislason spricht in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur über die wichtigsten Aufgaben im Vorfeld, die Corona-Sorgen und seine Gefühle vor seinem ersten WM-Turnier.

An diesem Sonntag beginnt in Neuss die WM-Vorbereitung. Worauf werden Sie das Hauptaugenmerk legen?

Alfred Gislason: Eine funktionierende Abwehr ist das Erste, was wir hinbekommen müssen. Da müssen wir verschiedene Leute im Innenblock testen. Danach werden wir die verbleibenden Tage bis zur WM für einige angriffstaktische Dinge nutzen. Aber bis wir dahin kommen, wo ich mit der Mannschaft hin möchte, ist es ein sehr weiter Weg.

Reicht die Zeit dafür überhaupt oder müssen Sie auch Abstriche machen?

Gislason: Ich muss wie jeder Nationaltrainer in diesen Zeiten nur noch Abstriche machen. Ich bräuchte eigentlich minimal zwei Wochen für die Vorbereitung, jetzt habe ich nur drei, vier Trainingseinheiten. Jeder, der ein Bundesligateam trainiert, weiß, wie lange man braucht, um eine eingespielte Mannschaft zu bekommen. Ich kann natürlich auf vielen Dingen aufbauen. Aber was ich neu einbringen will, geht nur Schritt für Schritt.

Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang die beiden EM-Qualifikationsspiele gegen Österreich am 6. und 10. Januar?

Gislason: Das sind für uns sehr willkommene Spiele, die wir nutzen müssen, um uns einzuspielen. Wenn wir die nicht hätten, wäre es schwer einzuschätzen, wo wir stehen. Deshalb freue ich mich darauf.

Bei der Länderspielwoche im November hat die DHB-Auswahl unliebsame Erfahrungen mit dem Coronavirus gemacht. Danach gab es vier positive Fälle. Haben Sie ein wenig Angst davor, dass sich so etwas wiederholt und nach bisher acht Absagen weitere Spieler für die WM ausfallen?

Gislason: Natürlich hat man große Sorgen, weil man das momentan gar nichts ausschließen kann. Das kann keine Mannschaft.

Haben die jüngsten Corona-Fälle bei Silvio Heinevetter und Timo Kastening noch einmal die Sinne dafür geschärft, welche Gefahren diese Pandemie mit sich bringt?

Gislason: Ich denke schon. Beide waren sehr verblüfft, dass sie positiv waren.

Bei der WM-Endrunde bewegen sich die Mannschaften in einer Blase. Mit welchem Gefühl reisen Sie nach Ägypten?

Gislason: Wenn das strenge Hygienekonzept eingehalten wird, ist man in der Blase sicherer als im Alltag. Ich denke auch, dass alle gelernt haben, wie man sich schützen muss. Daher fliege ich mit einem guten Gefühl dorthin.

Bei einem Turnier müssen die Spieler auch mal mental runterfahren und sich ablenken. Ist das bei den strengen Vorschriften möglich? Einfach mal in die Stadt gehen und einen Kaffee trinken können sie ja nicht.

Gislason: Das ist ein Thema, über das wir viel nachgedacht haben. Wir sind dabei, Lösungen zu finden, dass sich die Spieler nicht eingeschlossen fühlen. Wir werden alles dafür tun, dass eine gute Atmosphäre herrscht und es keinen Lagerkoller gibt.

Sportlich scheint die Vorrunde gegen Ungarn, Kap Verde und Uruguay machbar. Wie schätzen Sie die Gegner ein?

Gislason: Ich habe mir Videos von allen Spielen dieser Teams in diesem Jahr besorgt und alles analysiert. Ungarn hat eine sehr starke Mannschaft. Nach einem Umbruch vor zwei, drei Jahren ernten sie jetzt die Früchte ihrer sehr guten Nachwuchsarbeit. Sie sind ein Anwärter für das Halbfinale. Der zweitstärkste Gegner ist Kap Verde. Ich war sehr überrascht von ihrer Spielstärke. Die spielen alle in der portugiesischen Liga oder in Spanien. Die Mannschaft muss man sehr ernst nehmen. Uruguay versucht es mit extrem langen Angriffen. Da muss man sehr konzentriert zu Werke gehen, um aus Frustration nicht sein eigenes Spiel zu vergessen.

Wo sehen Sie die deutsche Mannschaft im gesamten Turnier?

Gislason: Das ist schwer zu sagen. Wir haben eine Mischung aus jungen, unerfahrenen Talenten und gestandenen Spielern, die über sehr viel internationale Erfahrung verfügen. Natürlich fehlen uns einige Akteure, aber im Angriff haben wir dennoch eine hohe Qualität. Die größte Baustelle ist die Abwehr, wo das komplette Herzstück - der Innenblock - weggefallen ist. Ich bin gespannt darauf, wie wir das lösen.

Edelmetall ist unter diesen Voraussetzungen kaum zu erwarten, oder?

Gislason: Lasst uns doch erstmal trainieren und spielen. Eine Medaille kann man aktuell nicht als Ziel ausgeben. Andere Top-Nationen wie Titelverteidiger Dänemark, Europameister Spanien, Kroatien oder Norwegen haben deutlich bessere Karten als wir. Aber wir sind Deutschland! Wir werden dorthin gehen mit allem, was wir haben, und ich hoffe, dass wir das so entwickeln können, dass die Jungs Spaß haben.

Für Sie ist es das erste große Turnier als Bundestrainer. Überwiegt die Freude, dass die WM stattfindet, oder ist auch Frust über die widrigen Begleiterscheinungen in der Corona-Krise dabei?

Gislason: In mir überwiegt der Isländer. Ich habe gelernt, schnell auf andere Umstände zu reagieren und mich auf das zu fokussieren, was ich habe. Ich freue mich trotz allem sehr auf dieses Turnier und darauf, nach der ganzen Wartezeit mit der Mannschaft zu arbeiten. Ich hätte mir andere Bedingungen gewünscht, aber es ist, wie es ist. Wir werden das bestmögliche daraus machen.

ZUR PERSON: Alfred Gislason (61) absolvierte 190 Länderspiele für Island und spielte in der Bundesliga von 1983 bis 1988 für TUSEM Essen. 1991 begann er seine Trainerlaufbahn, die ihn 1997 erneut nach Deutschland führte. Nach Stationen in Hameln, Magdeburg und Gummersbach betreute er elf Jahre lang mit großem Erfolg den THW Kiel. Seit Anfang Februar 2020 ist der verheiratete Familienvater, der mit seiner Frau in der Nähe von Magdeburg lebt, Bundestrainer.

© dpa-infocom, dpa:201231-99-862110/3