Ein Leben in neuen Bahnen

Die querschnittsgelähmte Sportlerin Kristina Vogel nimmt ihr Schicksal an

Von Jürgen Löhle

Die Bahnrad-Olympiasiegerin Kristina Vogel ist seit ihrem Trainingssturz im Juni querschnittsgelähmt. Sie geht positiv damit um und könnte bald ganz oben stehen: als Sportlerin des Jahres.

Baden-Baden Wenn am Sonntag in Baden-Baden Deutschlands Sportler des Jahres verkündet werden, sind das wieder die Stunden außergewöhnlicher Athletinnen und Athleten. Der festliche Abend wird geprägt von Geschichten über große Siege und beeindruckenden Leistungen. Trotzdem kann es sein, dass in diesem Jahr bei den Frauen eine Athletin ganz weit vorne landen wird, die brutal von der Sportbühne gestoßen wurde und gerade dabei ist, sich in ihrem neuen Leben im Rollstuhl zurechtzufinden. Kristina Vogel wurde Anfang März bei der Bahn-WM in Holland zusammen mit Miriam Welte noch Weltmeisterin im Teamsprint. Es war bereits der elfte WM-Triumph der Radsportlerin in der Eliteklasse, aber was wiegt der schon bei einer Sportlerwahl des Jahres 2018 zum Beispiel gegenüber zwei olympischen Goldmedaillen der Biathletin Laura Dahlmeier oder dem Wimbledon-Sieg von Angelique Kerber?

Im Normalfall dürfte das nicht für ganz vorne reichen. Die Geschichte der Kristina Vogel ist aber nicht normal. Am 26. Juni raste die damals 27-jährige Sprinterin beim Training auf der Betonbahn von Cottbus mit Tempo 60 in einen jungen Bahnsportler aus Holland, der auf der Gegengerade stehende Starts übte. Der Aufprall war fürchterlich, Kristina Vogel erlitt unzählige Brüche, ihr Leben hing an einem seidenen Faden, in der Klinik in Berlin wurde sie ins künstliche Koma versetzt. Die Olympiasiegerin von Rio und 21-fache deutsche Meisterin hat überlebt, ist aber seither vom siebten Brustwirbel an querschnittsgelähmt.

Ein hartes Schicksal und zum Glück auch ein seltenes, obwohl im Radsport immer mal wieder schwere Unfälle passieren. Auch Christian Meyer, Olympiasieger 1992 in Barcelona, sitzt seit einem Unfall 1994 beim ­Giro d’Italia für Amateure im Rollstuhl. Die Sportlerwahl ist aber immer ein Stück weit die Prämierung einer Lebensleistung, und da ist die in Kirgisien geborene Radsportlerin ganz vorne dabei. Elf WM-Titel, 2016 Olympiasiegerin im Sprint, unzählige Weltcup-Siege. Das ist die sportliche Seite – die andere ist ihr Umgang mit dem Schicksalsschlag, der viele staunen lässt.

Die Polizeihauptmeisterin Vogel hat keine Erinnerung an den Unfall, lag danach ­wochenlang abgeschottet in der Klinik. Als sie dann Mitte September bei einer Pressekonferenz in der Unfallklinik in Berlin ins öffentliche Leben zurückkam, ließ sie bemerkenswerte Einblicke in ihr Inneres zu und zeigte Mut machenden Optimismus. Da war kein großes Hadern. Grund dazu hätte sie allemal, eigentlich hatte sie ihr Verletzungspech ja schon gehabt.

2009 war sie beim Straßentraining in Erfurt schwer verunglückt. Ein ziviles Polizeifahrzeug nahm ihr die Vorfahrt, sie stürzte, erlitt schwere Gesichtsverletzungen, die Narben sieht man noch heute. Aber auch jetzt – nach dem zweiten Schicksalsschlag – blickt sie nach vorn. Kaum aus dem künstlichen Koma erwacht, schmiedete sie schon wieder Pläne. „Ich will so schnell wie möglich ein normales Leben führen“, sagte sie in Berlin. Das Haus, in dem sie mit ihrem Partner Michael Seidenbrecher, auch er einst Bahnsprinter, lebt, soll behindertengerecht umgebaut werden. Ihren Alltag will sie nach der Reha in ein paar Wochen alleine meistern. Bei der Pressekonferenz in Berlin trägt sie feuerrote High Heels. „Ich habe Hunderte Paar Schuhe“, sagt sie und lächelt.

Nach außen hat sie ihr Schicksal ungeheuer positiv angenommen. Dass der Unfall auch seelisch schmerzt, schimmert durch, wenn sie einräumt, manchmal neidisch zu sein auf die, die laufen können. Andererseits sagt sie: „Ich bin jetzt frei“, und meint damit: raus aus dem manchmal gnadenlosen Karussell Hochleistungssport. 19 Jahre stand sie unter dem Druck, Jahr für Jahr Erfolge und Titel zu holen. Druck, den sie sich vor allem selbst gemacht hat. „Ich wollte immer gewinnen. Jetzt fühle ich mich wieder frei und habe Zeit, mir neue Ziele zu setzen“, sagte sie in einem TV-Interview.

Kristina Vogels Optimismus kann anstecken und bringt ihr vielleicht an diesem Sonntag in Baden-Baden den ersten Podestplatz in ihrem neuen Leben. Auf jeden Fall aber den ersten großen Auftritt in der ­versammelten Sportfamilie nach ihrem schweren Unfall, der sie fast das Leben gekostet, aber nicht gebrochen hat.