Freiheiten für Vereine hätten allen geholfen

Hirnforscher Frieder Beck kritisiert Einschränkung der Sport- und Bewegungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in der Coronakrise. Der Auenwalder erwartet hohe Folgekosten und wundert sich über die mangelnde Lernfähigkeit der Behörden und der Politik.

Freiheiten für Vereine hätten allen geholfen

Der Parcours der TSG 1846 war für die Kinder ein Spaß und vor allem eine Hilfe, um den Mangel an Bewegung ein wenig auszugleichen. Solche Angebote hätte sich der Bewegungsneurowissenschaftler aus Auenwald mit Unterstützung der Behörden auch an vielen anderen Orten erhofft. Foto: T. Sellmaier

Von Uwe Flegel

„Im zweiten Lockdown habe ich mich gewundert, dass aus dem ersten nichts gelernt worden ist.“ Entsprechend froh ist Frieder Beck nun, dass nun angesichts der niedrigen Inzidenzzahlen in den Vereinen und Schulen der Sport weitgehend wieder möglich ist. Schließlich propagiert er als Hirnforscher schon seit Jahren, dass Sport und Bewegung positive Auswirkungen auf die Lernfähigkeit haben. „Bewegung macht schlau“, behauptet der 50-Jährige aus Lippoldsweiler in seinem jüngsten Buch und untermauert das mit neuesten Forschungsergebnissen.

Deshalb hat der Sportwissenschaftler und promovierte Spezialist für Bewegungsneurowissenschaft wenig Verständnis dafür, dass in der Coronapandemie bei jeder Welle sofort die Möglichkeiten zum gemeinsamen Sport und zur Bewegung stark begrenzt wurden. Vor allem die für Kinder und Jugendliche. „Wir werden die negativen Folgen schon noch sehen und spüren“, prophezeit Beck. Er spricht von psychischen wie physischen Nachwirkungen und von in allen Bereichen zunehmenden Defiziten. Auch weil es zum Beispiel den Knochen der Mädchen und Jungen teilweise monatelang an sogenannter Bewegungserschütterung fehlte. Das sei weder für die Knochendichte noch fürs Knochenwachstum gut. Hinzu kommt: „Selbstregulierung wird durch Bewegung gefördert. Gedächtnisleistung wird durch Bewegung gefördert.“ Klar ist für den Sport- und Mathematiklehrer am Weissacher Bildungszentrum auch: „Kinder zwischen sechs und acht Jahren haben wegen des Bewegungsmangels deutlich größere Folgen zu befürchten als ältere.“

Wobei der Mann, der fast eineinhalb Jahrzehnte Trainer beim deutschen Ski-Freestyle-Nationalteam war, keiner ist, der die Gefahren des Coronavirus verharmlost. Die von der Politik und den Behörden angeordneten Vorsichtsmaßnahmen sind für ihn kein Humbug. Jedoch sei die Schließung fast aller kommunaler Sportanlagen und die damit verbundene große Einschränkung von Bewegungsmöglichkeiten für Jugendliche und Kinder alles andere als ideal gewesen. Wobei es durchaus einige wenige Städte und Gemeinden gab, die nicht ganz so rigoros vorgingen. Vielerorts „wurde aber nie geschaut, was möglich ist“, kritisiert Beck und sagt: „Dabei hatten die Sportvereine doch beispielsweise beim ersten Lockdown bereits sehr gute Hygienekonzepte vorgelegt.“ Auf die hätte man problemlos aufbauen können, ist sich der Auenwalder sicher und sagt: „Es hätte uns allen unheimlich geholfen, den Vereinen mehr Freiheiten zu lassen. Alles zuzumachen hat Nachwirkungen, die ebenfalls Kosten verursachen.“

Der Breiten- und nicht der Spitzensport hätte im Fokus stehen müssen.

Für ihn wäre Sport im Freien unter bestimmten Voraussetzungen permanent möglich gewesen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bewegungsparcours, den die TSG Backnang 1846 angeboten hat, obwohl die Stadt anfänglich eher skeptisch war. Angebote wie das auf dem Hagenbach hätte sich der Auenwalder andernorts und durchaus vermehrt gewünscht. Eventuell gar auf Initiative der Kommunen und in einer Partnerschaft zusammen mit den örtlichen Klubs.

Der Sport und die Vereine wurden von der Politik und den Behörden bekanntermaßen aber nicht als Teil der Lösung betrachtet. Im Kinder- und Jugendbereich wurde ihnen gar eine Hilfestellung über Monate hinweg verwehrt, wurde ihnen mit einem fast schon unsinnigen Vorgehen bei der Testpflicht im Hallensport für Kinder ab sechs Jahren, die ja allesamt in der Schule jeden Tag getestet werden, das Leben erschwert. Einzig der sogenannte Spitzensport wurde bevorzugt. Frieder Beck sagt dazu: „Rein wirtschaftliche Faktoren waren ausschlaggebend.“ Aus gesundheitlichen Gründen und auf die Zukunft ausgerichtet wäre allerdings „nicht der Wettkampfsport wichtig gewesen, sondern der Breitensport. Er hätte im Fokus stehen müssen.“

Tat er nicht. Zur Verwunderung des Hirnforschers, der prophezeit: „Die Folgen dieser Vorgehensweise werden wir noch spüren.“ Erst recht, wenn Politik und Behörden bei einem nicht auszuschließenden weiteren Lockdown erneut keinerlei Lernfähigkeit beweisen. Wobei Becks Kritik nicht nur an diese Richtung geht, sondern auch an die Oberen des Sports: „Von den Sportverbänden hätte ich mir wesentlich klarere Signale und deutlich mehr Widerstand erhofft.“

Freiheiten für Vereine hätten allen geholfen

Frieder Beck denkt, dass das lange Breitensportverbot noch Folgen für uns hat. Foto: A. Becher

Ein 320-Seiten-Plädoyer für „mentale Leistungssteigerung durch körperliche Aktivität“.

„Bewegung macht schlau“, schreibt Frieder Beck. Dem 50-jährigen Hirnforscher aus Auenwald, der unter anderem Spitzensportler und Trainer im Hochleistungsbereich berät, geht es in dem im Goldegg Verlag erschienen und 320 Seiten umfassenden Werk um „mentale Leistungssteigerung durch körperliche Aktivität“. Klaus Roth, ehemaliger Leiter des Arbeitsbereichs Bewegung und Training des Instituts für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg ist sich sicher: „Das Buch ist eine wahre Schatzkiste für alle Sportbegeisterten, Trainer, Eltern, Sportwissenschaftler und für die, für die Sport bisher keine große Bedeutung hatte.“ Thomas Tuchel, Trainer des Fußball-Champions-League-Siegers FC Chelsea, schreibt in seinem Vorwort: „Handlungsempfehlungen aus der Neurobiologie waren fürs sportliche Training bisher von sehr hoher Allgemeinheit und boten kaum grundlegend Neues. Das ist hier anders: Frieder Beck schafft es, die mannigfaltigen Forschungsergebnisse der letzten Jahre zu einem einheitlichen Bild zusammenzuführen, um daraus konkrete Aussagen treffen zu können, wann und wie im Sport optimal gelernt wird.“

Bewegung hat Kindern und Jugendlichen nicht nur im Sport gefehlt, sondern wegen des Wegfalls des Präsenzunterrichts auch an den Schulen. „Fernunterricht ist völlig bewegungsfrei. Hier sitzen die Kinder knallhart sechs Stunden fest, hocken zumeist vor dem Bildschirm und wenn sie gehen, dann zum Kühlschrank“, sagt Frieder Beck. Das bedeute Eintönigkeit statt der Anreize, die das Gehirn braucht und bei eigener Bewegung sowie mithilfe wechselnder Perspektiven bekommt. „Es reicht schon, in anderen Gesichtern zu lesen“, erzählt Beck. Und: „Wer angestrengt auf dem Sofa nachdenkt, erzielt eigentlich keinen Effekt. Das liegt daran, dass unser Hirn sein letztes Update vor 30000 Jahren erhalten hat.“ Deshalb fühle sich der Mensch heute noch in einer großen Gruppe wohler als allein, deshalb empfinden wir Geselligkeit normalerweise als Belohnung, „deshalb sind wir Teamplayer und verspüren Langeweile als unangenehmes Gefühl“. Außerdem: „Bei unseren Vorfahren waren die höchsten Leistungen immer mit Bewegung verbunden. Im Überlebenskampf war die kognitive Leistung und die Bewegung wichtig. Wer beides gut zusammenbrachte, der hatte größere Chancen, zu überleben und hat diese Fähigkeiten dann auch weitervererbt.“