Löw mit fragilem Gebilde - EM-Halbfinale ist „Minimumziel“

Von Von Jens Mende und Klaus Bergmann, dpa

dpa Köln. Für Pessimismus sieht der Bundestrainer keinen Grund. Für ihn bringt der Auftritt gegen die Schweiz sogar positive Zeichen. Aber das Hauptproblem bleibt: Abwehrfehler bringen sein Team um den Lohn guter Offensivaktionen. Löw beruhigt die Fans: Noch sei Zeit bis zur EM.

Löw mit fragilem Gebilde - EM-Halbfinale ist „Minimumziel“

Bundestrainer Joachim Löw ist blickt weiter optimistisch in die Zukunft. Foto: Federico Gambarini/dpa

Beim Abschied aus Köln verkündete Joachim Löw eher nebenbei noch das EM-Halbfinale als „Minimumziel“.

Dabei nimmt der Bundestrainer nach einem turbulenten und kontrovers diskutierten Länderspiel-Dreierpack ein fragiles Gebilde mit für die nächsten Aufgaben im November. Das abschließende 3:3 in der Nations League gegen die Schweiz nährt mehr die Zweifel als die Hoffnung, dass der Bundestrainer bis zum kommenden Sommer unter Zeitdruck und den weiterhin speziellen Bedingungen der Corona-Pandemie die Defizite bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft beheben kann.

Die dritte Partie in einer Woche wurde zur Zustandsbeschreibung. Während die Offensivabteilung mit dem neuen Chelsea-Angreifer Timo Werner und dem Bayern Serge Gnabry sowie dem erstmals im Nationalteam richtig überzeugenden Jungstar Kai Havertz jeden Gegner in helle Aufregung versetzen kann, gleicht die Defensive einem Torso. Die Umstellung von der Dreierkette auf die frühere Erfolgsvariante Viererkette verstärkte diesmal noch die Instabilität. „Wir müssen besser, klüger und erwachsener verteidigen“, befand Havertz.

Sieben Tore kassierte das deutsche Team in drei Spielen. Die acht eigenen Treffer reichten so nur zum Sieg in der Ukraine, der allerdings von Spaniens Niederlage am Dienstagabend in Kiew (0:1) im Nachhinein noch aufgewertet wurde. Die Außenspieler Lukas Klostermann und Robin Gosens zeigten sich gegen die Eidgenossen auf einem Niveau, das für Löws Minimumziel 2021 nicht reichen wird. Und auch die im Vergleich erfahreneren Innenverteidiger Matthias Ginter und Antonio Rüdiger offenbarten mehr Schwächen als im Dreier-Abwehrverbund.

Die Schweizer Zeitung „Blick“ schrieb am Mittwoch sogar von einem „deutschen Panikorchester in der Abwehr“ und befand: „Das Team von Jogi Löw steckt in einer monumentalen Schaffenskrise.“ Der zweimal erfolgreiche Mario Gavranovic und Remo Freuler bestraften die Mängel bei den Gastgebern. Werner, Havertz und Gnabry schlugen zurück. „Gut, dass wir zurückgekommen sind. Wir haben echt gefightet. Aus den Rückschlägen kann man stark hervorgehen“, meinte Löw.

Der Chefcoach ordnete auch den Abend der offenen Abwehrreihen in das große Ganze seines EM-Plans ein. „Wir haben bewusst viel riskiert“, sagte der 60-Jährige: „Wir haben überall auf dem Platz Mann gegen Mann gespielt.“ Fehler waren sozusagen einkalkuliert. Auch die Pause für den eigentlichen Abwehrchef Niklas Süle gehörte zu Löws durchaus weitsichtiger Strategie: „Bei ihm muss man vorsichtig sein. Er hat gerade einen Kreuzbandriss auskuriert.“ Beunruhigt blickt der Bundestrainer nicht in Richtung EM: „Wir haben schon noch ein paar Spiele. Das alles Entscheidende wird die Vorbereitung sein.“

Auch wenn es im November in Leipzig gegen die Ukraine und in Spanien um den Gruppensieg in der Nationenliga geht und dazu noch ein Test gegen Tschechien auf dem Plan steht, hat Löw für taktische Schulungen kaum Zeit. Wieder will er einen großen Kader mit fast 30 Spielern berufen, wieder wird er das Freundschaftsspiel gegen die Tschechen als Chance für nachrückende Spieler ausrufen. Und wieder dürfte er für seine Vorgehensweise von Experten und Alt-Internationalen gerügt werden. „Wir konzentrieren uns auf unseren Plan, den verfolgen wir konsequent und springen nicht immer hin und her“, konterte Löw.

Unterstützung erhielt der Bundestrainer von Hansi Flick. „Ich finde das, was gerade aktuell passiert, schon sehr, sehr übertrieben. Jogi hat einen sensationellen Job gemacht als Bundestrainer“, sagte der Trainer des FC Bayern München am Mittwoch. Der langjährige Assistent von Löw, mit dem er 2014 zusammen Fußball-Weltmeister wurde, wunderte sich über einige der kritische Stimmen.

Es seien manche Experten dabei, „die schon seit 25, 30 Jahren gar keinen Ball mehr an den Füßen hatten“, sagte Flick. Er erinnere sich noch an die aktive Zeit einiger Experten, die sich als Spieler über die Kritik der damaligen Experten aufgeregt hätten. „Und schwuppdiwupp, ist man selber auf der Seite und haut selber das eine oder andere Ding raus. Das tut dem deutschen Fußball und der Sache nicht unbedingt gut“, sagte der 55-Jährige.

„Man kann viel aus dem Spiel mitnehmen“, sagte der Bundestrainer nach dem dritten Unentschieden im vierten Nations-League-Spiel der Saison gegen bissige Schweizer, die 2:0 und 3:2 führten. Löw spürt, „dass die Mannschaft Energie ausstrahlt, dass sie eine gute Moral besitzt und Fortschritte machen will“. Auch die Spieler hoben das Positive hervor. Problem sei die erste Viertelstunde gewesen, meinte Jubilar Toni Kroos. „Danach haben wir ein gutes Spiel gemacht und uns fußballerisch zum letzten Spiel gesteigert“, sagte der 30-Jährige, der jetzt als 15. deutscher Spieler zum Club der Hunderter gehört.

Die Würdigung des DFB-Chefs gab's gleich in der Kölner Kabine. „Das ist eine ganz besondere Leistung“, sagte Verbandspräsident Fritz Keller zum 100. Länderspiel von Kroos. „Auf der langen Liste seiner Erfolge fehlt jetzt eigentlich nur noch der Europameister-Titel.“

Löw glaubt daran, auch wenn seine Mission heikel ist - und heikel bleiben wird. „Die Mannschaft hat echtes Potenzial. Wenn wir noch ein paar Dinge optimieren, können wir uns freuen“, verkündete er selbstbewusst. Viele seiner Kritiker sehen das skeptischer.

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Serge Gnabry (M) rettet der dem DFB-Team mit seinem Tor einen Punkt gegen die Schweiz. Foto: Federico Gambarini/dpa

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Joachim Löw sieht für Pessimismus keinen Grund. Foto: Federico Gambarini/dpa