Sonnenbad nur für Pappfiguren: Corona-WM in Oberstdorf

Von Von Patrick Reichardt und Thomas Eßer, dpa

dpa Oberstdorf. Erst scheitern vier Bewerbungen - und jetzt haben sie auch noch die Corona-WM. Das ersehnte Wintermärchen wird für Oberstdorf und den deutschen Skisport ausbleiben. Die Verantwortlichen im Allgäu schielen schon vor Beginn der Titelkämpfe auf den nächsten Anlauf.

Sonnenbad nur für Pappfiguren: Corona-WM in Oberstdorf

Pappfiguren sind auf der Tribüne in Oberstdorf aufgestellt. Foto: Daniel Karmann/dpa

Im vom Bergparadies umringten Oberstdorf ist der Ausnahmezustand eigentlich Normalität. Global bekannte Sportevents wie die Vierschanzentournee oder hunderttausende Touristen alljährlich sind in dem beschaulichen 10.000-Einwohner-Örtchen längst Routine.

Umso skurriler wird die nun schon zur Gewohnheit gewordene Corona-Tristesse ohne Zuschauer in diesen Tagen anmuten, wenn die Nordische Ski-WM 2021 vor Pappkameraden statt wilden Wikingern steigt und die Stimmung für das geplante Wintermärchen nicht aus zahllosen lautstarken Kehlen, sondern aus den Musikboxen kommt.

Was für eine Note die Pandemie der Veranstaltung von Skispringern, Kombinierern und Langläufern verleihen wird, ist schon vor dem offiziellen Beginn zu spüren. An Balkonen und Gartenzäunen hängen nur ganz vereinzelt bunte Fahnen, die engen Gassen in Richtung Schanze sind menschenleer. Während Restaurants und Läden geschlossen sind, gibt es nur einen Ort, an dem am Montag reges Treiben und großer Andrang zu registrieren sind: die Corona-Teststation. Zu allem Überfluss lassen das warme Wetter und die kräftige Frühlingssonne bei über 15 Grad Celsius gerade den letzten Schnee im Ort wegschmelzen.

Vor der dritten Oberstdorfer WM-Ausgabe nach 1987 und 2005 betonen Sportler, Funktionäre und der Deutsche Skiverband (DSV) unisono, wie dankbar sie sind, dass das Event inmitten einer Pandemie überhaupt steigen kann. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Ganze viermal ist die Wintersport-Hochburg im Allgäu mit ihren WM-Bewerbungen zuvor nicht zum Zug gekommen - und das, obwohl der DSV im internationalen Skisport als einflussreich und mächtig gilt. Nun haben sie ausgerechnet die Geister-WM bekommen.

„Das schmerzt im Nachhinein, aber wir müssen nach vorne schauen“, sagte Verbandspräsident Franz Steinle der dpa. Er meint vor allem die Titelkämpfe von Seefeld, das sich für 2019 mit neun zu acht Stimmen gegen Oberstdorf durchgesetzt hatte. Zwar hat der Skiverband eine Pandemieversicherung abgeschlossen und bekommt Verluste ersetzt, doch den Stimmungsausfall macht auch kein noch so lustiger Pappkamerad wett. „Wir haben uns das anders vorgestellt. Es wird ein anderes Wintermärchen als 2005. Die Situation hat sich niemand gewünscht“, sagte Geschäftsführer Moritz Beckers-Schwarz. In die Modernisierung der Sportanlagen wurden rund 40 Millionen Euro investiert.

Anders als vor 16 Jahren, als insgesamt 350 000 Zuschauer die Schanzen und Loipen säumten, polarisiert das Sport-Großevent in diesem Winter. Während viele Bewohner in dem Alpenort seit Monaten im Lockdown verharren, soll nun eine weltweite Sportveranstaltung mit 4500 Gästen aus 62 Ländern steigen? Hotelier Jürnjakob Reisigl hat dafür kein Verständnis und forderte gar eine kurzfristige Absage. „Diese WM passt nicht in diese Zeit. Das ist doch pervers, wenn alles stillsteht und wir hier ein Fest des Sports feiern wollen“, sagte er der „Allgäuer Zeitung“.

Reisigls drastische Forderung blieb zwar eine Einzelwortmeldung. Aber wie ernst das Thema ist, zeigt auch die stetige Verschärfung des Hygienekonzepts bis kurz vor WM-Beginn. Der Rhythmus der ohnehin engmaschigen Testungen wurde für alle Beteiligten noch einmal deutlich verdichtet, auch das Hotelpersonal soll während der zwei Wettkampfwochen regelmäßig getestet werden.

Stimmungsvolle Erinnerungen an ein Wintermärchen oder einen WM-Wahnsinn werden diesmal aber kaum bleiben. Es werden keine Trachten- oder Schützenvereine zu zünftiger Volksmusik durch den Markt ziehen und stolz die Flaggen aller Gäste präsentieren. Stattdessen sollen die Bewohner, die trotz der örtlichen Nähe alle Wettbewerbe nur im Fernsehen bestaunen können, ihre Fenster dekorieren. Was bedeutet die erzwungene Tristesse für künftige Sportevents in Oberstdorf?

Der frühere Skisprung-Bundestrainer Werner Schuster, der selbst aus der Gegend stammt, ist skeptisch. „Die Stimmung im Ort wird sich natürlich nicht verbessern. Es gibt ja auch Kritiker, es fehlen wichtige Einnahmen. Die Freude nach einem weiteren Sportfest könnte zurückgehen. Das ist sehr, sehr unglücklich“, sagte Schuster. Die Organisatoren spielen mit dem Gedanken, sich für die WM 2027 direkt wieder zu bewerben und dann das Sportfestival einfach nachzuholen. Oberstdorf und der DSV hoffen, dass es dann einen Bonus für die Ausrichtung der Geister-WM gäbe.

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