Svindal und die Streif: der letzte Akt

Den Norweger verbindet eine Hassliebe mit der Höllenabfahrt

Von Dominik Ignée

Ski alpin - Aksel Lund Svindal hat im alpinen Skizirkus alles gewonnen, was es an wichtigen Trophäen gibt – nur nicht die Streif in Kitzbühel. An diesem Samstag will er sie endlich knacken.

KitzBÜhel Nicht zu glauben, dass diesem Berg von einem Mann so die Düse ging. Vor 16 Jahren teilten die norwegischen Alpintrainer dem 19-jährigen Talent Aksel Lund Svindal mit, dass er im Januar am Abfahrtsklassiker in Kitzbühel teilnehmen dürfe. Doch was sie mit der Ankündigung bewirkten, hatten sie unterschätzt. „Es verging nach meiner Nominierung im Herbst 2002 kein Tag, an dem ich keine Angst hatte – kein Tag“, erinnert sich Svindal. Es bedarf keines besseren Beweises, was es bedeutet, die Streif herunterzufahren – sie ist die Hölle.

Mit der Mutter aller Abfahrten hat Svindal bis heute keinen Frieden geschlossen. Die Ängste mögen nachgelassen haben, aber als Sieger beendete er die irre Schussfahrt nie. Zweimal Olympiasieger, fünfmal Weltmeister, zweifacher Weltcup-Gesamtsieger, 36 Rennerfolge – mit seinen 36 Jahren könnte der Rennläufer seine Karriere lässig beenden als einer, der alles gewonnen hat. Fast alles! In Kitzbühel gewann er dreimal den Super-G. Und der hat im Vergleich zur Abfahrt die Bedeutung einer besseren Trainingseinheit – als fahre man im Schwarzwald einen Hügel hinunter und freue sich.

Die echte Streif ist der Wahnsinn, die größte Mutprobe alpiner Kunst. Sie als Sieger noch nie geknackt zu haben macht Svindals Karriere für die Freunde der Statistik unvollendet. „Sollte ich einmal Kinder haben, glaube ich nicht, dass sie mir deswegen eines Tages Vorwürfe machen“, sagt der Skandinavier – doch lässt ihm diese auf den ersten Blick kleine, doch aber riesengroße Bilanzlücke tatsächlich keine Ruhe. „Es nervt mich wirklich, dass ich dort noch nie gewonnen habe“, sagt er. Erfahrungsgemäß braucht es ziemlich lange, bis den ruhigen und besonnenen Rennläufer mal etwas ärgert.

Aksel Lund Svindal hat böse Erinnerungen an die Streif, auch das. Vor drei Jahren warf sie ihn so übel ab, dass die Pessimisten das Ende seiner Karriere vorhersahen. Nach beeindruckendem Saisonstart führte er den Gesamtweltcup vor der österreichischen Slalom-Granate Marcel Hirscher an. Auch vor Kitzbühel waren es 107 Punkte Vorsprung, doch dann stürzte er an der Hausbergkante so gravierend, dass sie in einem Innsbrucker Spital einen Riss des vorderen Kreuzbandes und auch einen am Meniskus diagnostizierten – das rechte Knie war im Eimer. Svindal fiel mehrere Monate aus.

Vor dem Norweger flogen bereits die österreichischen Schuss-Routiniers Hannes Reichelt und Georg Streitberger ab. Damals wurde wieder eine Debatte entfacht, ob der Ritt auf der Rasierklinge auf dem mit seinen nur 1800 Metern eher anmutig wirkenden Hahnenkamm noch Sinn ergibt. Geht nicht, gibt’s nicht – sie fahren noch heute. Auf die Streif zu verzichten hieße, der Formel 1 den Monaco-Trip zu rauben oder dem Tenniszirkus die Rasenparty in Wimbledon.

Es geht um das letzte bisschen Tradition im Sport. Und Svindal steht vor dem letzten Kraftakt seiner Karriere. „Zehn Jahre werde ich nicht mehr weiterfahren, vielleicht noch einen Winter“, sagte er. Seinen letzten Weltcup-Sieg holte er am 14. Dezember 2018 in Gröden, da war er Schnellster im Super-G. Seine letzte Weltcup-Abfahrt gewann er an derselben Stelle im Dezember 2017. Er kann es noch. Und wer weiß: Hätte er bei den Winterspielen 2018 nicht mit 35 Jahren Abfahrtsgold geholt („Ich habe da mehr riskiert als sonst“), vielleicht wäre er nicht mehr im Weltcup unterwegs. Doch seinen Verletzungen und Einschränkungen zum Trotz steht er immer wieder auf. „Dieses Adrenalin, das man kriegt, macht Spaß. Wenn ich mir sage, ich mache es jetzt ein bisschen ruhiger, möchte ich wissen, dass es der richtige Zeitpunkt ist“, sagt Svindal, in dessen Kopf mehr Feuer brennt, als sein Körper zulässt.

Vorne mitzufahren kostet ihn viel Energie. Vor einem Rennen fährt er Rad, danach macht er es wieder, kühlt später das Knie mit Eis und marschiert zum Physiotherapeuten. Nur das schonende Radfahren lässt das Gelenk noch zu. Warum er sich das antut? „Man will nichts auslassen“, sagt Aksel Lund Svindal – und lächelt. Denn die Gewissheit, alles mitgenommen zu haben, hat er nur, wenn er seine Ängste noch einmal überwindet – und Samstag gewinnt. Geht nicht? Gibt’s nicht. Vor allem auf der Streif.

In Svindal brennt ein größeres Feuer, als sein Körper verträgt