„Teenager werden heute langsamer erwachsen“

Tennis-Legende Boris Becker spricht über den Nachwuchs und die hohe Erwartungshaltung der Deutschen an Alexander Zverev

Von Marko Schumacher

Interview - In Stuttgart-Stammheim hat Boris Becker (51) das Landesleistungszentrum des WTB besucht. Vorbildlich findet der Chef des deutschen Männertennis die Nachwuchsförderung – ist bei anderen Themen aber weniger euphorisch.

Stuttgart

Frage: Herr Becker, ist der Weg in die Weltspitze heute noch weiter als früher?

Antwort: Es war noch nie leicht, nach ganz oben zu kommen. Der Unterschied zu meiner Zeit ist, dass es heute viel mehr Tennisspieler gibt. Ob es bessere gibt – das lasse ich dahingestellt. Ich bin kein Freund davon, die Generationen miteinander zu vergleichen. Die Nummer eins oder auch die Nummer zehn waren schon immer gute Spieler, egal wann sie aktiv waren.

Frage: Sie waren mit 17 Wimbledon-Sieger, heute liegt das Durchschnittsalter der Top 20 bei 27,5. Der einzige Teenager ist der Russe Denis Shapovalov auf Rang 20. Woran liegt das?

Antwort: Punkt eins: Es gibt ganz oben in der Weltrangliste noch immer Roger Federer, Novak Djokovic und Rafael Nadal – Weltstars des Sports, die auch weiterhin schwer zu schlagen sind. Punkt zwei: Es ist womöglich ein grundsätzliches Problem, dass Teenager heute langsamer erwachsen werden als vor 20, 30 Jahren.

Frage: Warum ist das so?

Antwort: Das hat wenig mit dem Tennis zu tun. Die Erziehung, die Werte, die Prioritäten – sie haben sich verändert. Aus welchen Augen sieht denn ein 18-Jähriger heute die Welt? Er hat deutlich mehr Informationen als früher, es gibt Internet und Social Media, jeder hat ein Handy oder auch zwei. Daraus resultieren dann auch deutlich mehr Optionen, was nicht immer ein Vorteil ist. Es führt zur Qual der Wahl. Am Ende ist es eine persönliche Entscheidung, was man aus seinen Möglichkeiten macht.

Frage: Wie war das bei Ihnen?

Antwort: Ich hatte einen tollen Verbandstrainer am Leistungszentrum in Leimen (den 2012 verstorbenen Boris Breskvar, Anm. d. Red.) und wurde als 12-, 13-, 14-Jähriger hervorragend gefördert. Dann bin ich irgendwann flügge geworden und meinen eigenen Weg gegangen. Im Vergleich zu damals hat sich so viel gar nicht verändert. Junge Spieler kommen, wie hier am Bundesstützpunkt in Stuttgart, noch immer in den Genuss exzellenter Förderung durch den DTB und seine Landesverbände. Ich würde sogar sagen, in der Nachwuchsförderung hat Deutschland eine Vorbildfunktion.

Frage: An Toptalenten besteht aber kein Überfluss.

Antwort: Ich sehe es positiv: Wir haben in Rudi Molleker den vielleicht besten 18-Jährigen der Welt. Im Übrigen sollte man nicht den Fehler machen, die Vergangenheit zu verklären. Damals gab es neben mir einen Charly Steeb oder auch Eric Jelen. Es war aber nicht so, dass wir zehn junge Spieler hatten, die unter den Top 50 standen.

Frage: Welchen Beitrag zur Nachwuchsförderung können Sie leisten?

Antwort: Ich sehe mich als Teil eines großen Teams und versuche, den Spielern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Das betrifft nicht nur die Profis im Daviscup-Team, sondern auch und nicht zuletzt den Nachwuchs. Ich besuche regelmäßig Sichtungslehrgänge, habe einen regen Austausch mit den Bundestrainern, spreche mit den Eltern. Wie alle im Verband kann aber auch ich nur eine Hilfestellung leisten. Tennis ist ein Sport für Individualisten. Irgendwann muss der Spieler selbst entscheiden, wohin die Reise geht. Und am Ende ist er auch selbst verantwortlich für seine Erfolge – oder eben Misserfolge.

Frage: Alexander Zverev hat wie Sie schon sehr früh ganz aufs Tennis gesetzt – jetzt ist er 21 und steht an Weltranglistenposition drei. Geht es nur auf diese Weise?

Antwort: Wenn man als Jugendlicher international eine Rolle spielen will, muss man frühzeitig internationale Turniere spielen. Die finden mal in Spanien statt, mal in Amerika oder sonst wo. Diesen Weg ist Sascha sehr erfolgreich gegangen. Die anderen jungen Spieler, die jetzt in der Weltrangliste langsam an Boden gewinnen, haben einen ganz ähnlichen Weg hinter sich. Du kannst nicht bis zum 18. Lebensjahr nur in Deutschland spielen und erst dann richtig anfangen. So funktioniert unser Sport nicht.

Frage: Was antworten Sie Eltern, die fragen, ob ihre Kinder nicht lieber das Abitur machen sollen, als früh eine Profikarriere einzuschlagen?

Antwort: Ich bin selbst Vater und würde niemals den Ratschlag geben, die Schule zu schmeißen und sich nur auf den Sport zu konzentrieren. Die Antwort auf diese Frage liegt in der Verantwortung der Eltern. Sie müssen zu dem Entschluss kommen: Wir glauben, dass unser 15-jähriger Sohn talentiert genug ist, und wir wagen es, ihn den Lebensweg Profisport einschlagen zu lassen. Natürlich immer verbunden mit dem Risiko, dass er sich verletzt, doch nicht gut genug ist oder irgendwann die Lust verliert.

Frage: Haben Sie das Gefühl, dass dieser Mut zum Risiko in Deutschland zu oft fehlt?

Antwort: Das würde ich nicht behaupten. Im Falle von Alexander Zverev oder auch Rudi Molleker haben die Eltern sehr früh entschieden, dass der Beruf Tennisprofi der richtige Weg ist. Jetzt haben sie mehr gewonnen als verloren. Aber natürlich gibt es auch sehr viele Beispiele, die es nicht geschafft haben.

Frage: Wie sehen Sie die Entwicklung von Alexander Zverev? Wann kommt der ganz große Wurf?

Antwort: Moment. Sascha ist 2018 ATP-Weltmeister geworden, ein Titel, von dem 99,9 Prozent der Tennisspieler nur träumen können.

Frage: Ein Triumph, ohne Zweifel. Das Nonplusultra sind im Tennis aber die Grand Slams.

Antwort: Ich bin immer wieder erstaunt, was die deutsche Öffentlichkeit als Erfolg oder Misserfolg definiert. Schauen Sie: Sascha ist 21 und spielt im dritten Jahr unter den ersten fünf der Welt. Er ist mit Abstand der beste Spieler seiner Generation und hat drei ­Mastersturniere gewonnen. Er hat nur ein kleines Problem – das heißt Federer, Djokovic und Nadal. Damit ist er aber nicht alleine. Das ist alles erst mal hervorragend.

Frage: Aber?

Antwort: Kein Aber. Ich weiß, dass Sascha in Deutschland kritischer gesehen wird, weil er noch kein Grand-Slam-Turnier gewonnen hat. Und ich weiß jetzt schon: Nach seinem ersten Titel wird es heißen: Warum hat er nicht schon zwei Grand Slams gewonnen? Ich halte dies für fehl am Platze. Im Ausland wird er als Star gefeiert.

Frage: Deutschland stellt in Alexander Zverev den Weltmeister und in Angelique Kerber die Wimbledon-Siegerin. Ein Tennisboom wie in früheren Zeiten ist aber nicht spürbar.

Antwort: Sie haben recht, an der Qualität unserer Spieler kann es nicht liegen. Es liegt an den Fernsehschaffenden. Solange lieber ein Drittligaspiel im Fußball live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen wird als ein Wimbledon-Finale – so lange wird sich daran wenig ändern. Da hat keine andere Sportart eine Chance.

Frage: Wie sehr bedauern Sie das? Früher wurde fast jedes Turnier, an dem Sie teilnahmen, live im Fernsehen übertragen.

Antwort: Was vor 30 Jahren war, wird es nie wieder geben. Ich will auch gar nicht von den guten alten Zeiten sprechen – vielleicht waren die ja gar nicht so gut, man hatte nur weniger Alternativen. Ich ertappe mich heute dabei, dass ich kaum noch normales Fernsehen schaue. Höchstens die Nachrichten – aber die sehe ich eigentlich auf dem Handy bereits in dem Moment, in dem sie passieren.