Müllers Versprecher und Löws EM-Roulette

Von Von Klaus Bergmann und Jens Mende, dpa

dpa Seefeld. Der vorletzte Turniertest verläuft bei Joachim Löw traditionell holprig. Nach dem 1:1 gegen Dänemark will er „an den richtigen Schrauben drehen“. Das Comeback von Müller und Hummels ermutigt ihn.

Müllers Versprecher und Löws EM-Roulette

Rückkehrer Thomas Müller (2.v.l.) kämpft mit dem Dänen Christian Eriksen (2.v.r.) um den Ball. Foto: Christian Charisius/dpa

Entspannt radelte Joachim Löw am Feiertag in Tirol mit einem schicken E-Mountainbike durchs Seefelder Gelände. Er hielt sogar für ein Selfie mit einem Urlauber an - natürlich mit Abstand.

Nach „Licht und auch Schatten“ beim 1:1 gegen Dänemark suchte auch der Bundestrainer am Regenerationstag des Fußball-Nationalteams bei Sonnenschein ein wenig Zerstreuung und Ablenkung in der Natur. Auch das Casino ist in Seefeld nach der langen Corona-Schließung wieder geöffnet. Aber Löw muss sein Glück dort nicht versuchen. Er spielt lieber sein eigenes EM-Roulette und setzt dabei alles auf die 5 (Mats Hummels), die 25 (Thomas Müller) sowie die 3(-erkette) in der Abwehr.

Der 61-Jährige zockt vor seiner letzten Turniermission mit Systemen und Personal. Schon der Probelauf in Innsbruck offenbarte allerdings, dass viel Glück nötig sein wird, damit der ewige Jogi den DFB nach 15 Jahren als Chefcoach mit einem großen Gewinn verlässt. Von einem „Rückschlag“ mochte Löw nach dem nächsten verspielten Sieg nicht sprechen, „etwas holprig“ nannte er den Test.

Müllers Versprecher brachte es auf den Punkt

Die Stimmungslage im DFB-Tross pendelte irgendwo zwischen Ermutigung (ordentliche Leistung) und Enttäuschung (Ergebnis). Rückkehrer Müller brachte es mit seinem Versprecher auf den Punkt. „Am Ende ist es echt ärgerlich, dass wir das Spiel verlieren“, sagte er nach dem Abpfiff.

Verlieren? Müller lag damit falsch, aber das 1:1 fühlte sich für die Nationalspieler und auch die in der Spitze über sieben Millionen Zuschauer bei der RTL-Übertragung halt wie eine Niederlage an. Die Fans hatten keine zwei Wochen vor dem Ernstfall gegen Gruppenfavorit Frankreich am 15. Juni in München auf einen echten EM-Schub gehofft.

Stattdessen sahen sie die x-te Wiederholung eines immer gleichen Fußballfilms: Torchancen ausgelassen, Führung verschenkt, Frust mitgenommen. Löw beklagte das bekannte Problem, „dass wir uns häufig nicht entscheidend belohnen“. Es geht schleppend voran. Das vorletzte Länderspiel vor den Turnieren mit Löw als Chef missglückt aber fast schon traditionell: ein Sieg, drei Niederlagen, vier Remis.

Positive Ansätze gegen Dänemark

Zwei Monate nach der 1:2-Blamage gegen Nordmazedonien in der WM-Qualifikation hieß der Gegner immerhin Dänemark, aber nicht Frankreich oder Europameister Portugal, die ersten zwei EM-Gegner. Es gab im Tivoli Stadion trotzdem auch Ermutigendes. „Wir haben viel Gutes gesehen“, meinte der erschöpfte Müller nach seinem Comeback.

Eine positive Erkenntnis war: Die Rückholaktion von Müller und Hummels kann dem Team einiges geben, auch wenn dem Dauerantreiber des FC Bayern und dem Dortmunder Abwehr-Routinier keine Wunderdinge gelangen. Löw attestierte Müller und Hummels „ein gutes Spiel“. Er betonte die positiven Veränderungen durch das Weltmeisterduo von 2014. „Verbessert waren die Kommunikation auf dem Platz, die Kommandos und Anweisungen. Das war sehr positiv“, bemerkte Löw.

Ein Streitthema bleibt die Systemfrage. Löws taktische Antwort auf die Franzosen mit ihrer gewaltigen Offensivkraft und Einzelkönnern wie Kylian Mbappé oder Antoine Griezmann heißt Safety first. „Maß aller Dinge wird sein, dass wir in der Lage sind, zu null zu spielen und einen Vorsprung mal über die Runden zu bekommen“, sagte Löw.

Dreier-Abwehr soll gut stehen

Seine Systemlösung für dieses übergeordnete Ziel ist die Dreierkette. „Für mich ist entscheidend, dass die letzte Reihe gut steht“, sagte er. Das Trio Ginter, Süle, Hummels ließ kaum etwas zu, bis auf das ärgerliche 1:1 durch den Leipziger Angreifer Yussuf Poulsen.

Löw opfert für die Dreierkette freilich qualitative und auch quantitative Gestaltungskraft im zentralen Mittelfeld, in dem Torschütze Florian Neuhaus für sich werben konnte. „Es hat mir Spaß gemacht, auf dem Feld zu stehen“, äußerte der Turnierneuling.

In der Zentrale und in der Offensive hat Löw eine große Auswahl an hochwertigen Fachkräften. Er schöpft sie bei der Dreierkette aber nicht annähernd aus. Ein Kernproblem bleibt freilich unabhängig vom Spielsystem und auch mit Müllers Rückkehr die mangelhafte Effizienz.

Abschlussschwäche der DFB-Elf

7:1 lautete das Chancenverhältnis gegen die Dänen. Zu Neuhaus' Tor kamen noch zwei Alu-Treffer von Serge Gnabry und Joshua Kimmich. „Wir waren in den Offensivaktionen relativ klar“, befand Müller trotzdem. Der Offensiv-Chef wählte den optimistischen Ausblick: „Wir haben nicht nur gesehen, dass wir wollen, sondern Dinge auch sehr gut umsetzen können.“

Löws EM-Abschluss bleibt dennoch ein Glücksspiel, auch wenn er noch genug Zeit sieht, „um an den richtigen Schrauben zu drehen“. Den EM-Feinschliff kann er ab Freitag mit dem ganzen Kader angehen. Auch die Champions-League-Finalisten Kai Havertz, Antonio Rüdiger, Timo Werner und Ilkay Gündogan sollen dann das Teamtraining aufnehmen.

Bayern-Profi Leon Goretzka arbeitet nach einer Muskelverletzung dagegen wie am Donnerstag weiter individuell. Emre Can musste gegen Dänemark wegen einer Muskelverhärtung pausieren. Löw kündigte schon an, sein Personal-Roulette auch bei der Generalprobe gegen Lettland am Montag in Düsseldorf fortzuführen: „Die Mannschaft wird sicherlich anders aussehen.“

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