Zeit zumLeben

Kristina Vogel beeindruckt die Legenden des Weltsports

Von Marko Schumacher

Schicksal - Die querschnittsgelähmte Kristina Vogel hat in Monaco bei der Laureus-Preisverleihung positiv über ihr neues Leben geredet. Die Größen des Sports waren fasziniert von ihren Worten.

Monte Carlo Im Frühstücksraum des Hermitage-Hotels von Monte Carlo sitzt Kristina Vogel und kommt vor lauter Aufregung nicht dazu, ihr Rührei zu essen. Ungläubig schaut sie immer wieder zu den anderen Tischen, an denen Legenden des Weltsports ihren frisch gepressten Orangensaft trinken: Leichtathletik-Ikonen wie Sergej Bubka, Schwimm-Olympiasiegerinnen wie Missy Franklin, Box-Weltmeister wie Marvellous Marvin Hagler. „Die kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen“, sagt Vogel, „jetzt bin ich mittendrin – unfassbar. Ich bin hier so etwas wie ein Fangirl.“

Kristina Vogel (28) ist zum ersten Mal bei der Verleihung der Laureus-Awards, der „Oscars des Weltsports“. Selbst wenn man sie schon früher eingeladen hätte – sie hätte keine Zeit gehabt. Im Februar findet jedes Jahr die Bahnrad-WM statt, sie war zu dieser Zeit immer voll im Training. Auch jetzt wäre sie eigentlich in der heißen Vorbereitungsphase für die Titelkämpfe im polnischen Pruzkow (27. Februar bis 3. März). So jedenfalls sah ihr Plan aus – bis ihr fürchterlicher Trainingsunfall am 26. Juni 2018 alle Pläne zunichtemachte. Seither ist sie querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl.

Kristina Vogel ist zweimalige Olympiasiegerin und elfmalige Weltmeisterin, keine Bahnradfahrerin ist jemals erfolgreicher gewesen als die blonde Frau mit den schnellen Beinen. Eine Berühmtheit weit über die Radsportwelt hinaus ist sie aber erst geworden, seit sie nach dem so jähen Ende ihrer Karriere ihr Schicksal vom ersten Tag an ohne Hadern in die eigene Hand genommen hat. „Wenn meine Popularität jetzt viel größer geworden ist, dann dient auch das der Sache“, sagt sie: „Ich will für andere ein Vorbild sein und zeigen, dass das Leben sehr schön sein kann, auch wenn plötzlich alles ganz anders ist.“

Nach dem Frühstück im Hotel sitzt Kristina Vogel auf dem Laureus-Pressepodium – jetzt ist sie es, die von Größen des Weltsports bewundert wird. Rechts von ihr hat der Schweizer Fabian Cancellara (37) Platz genommen, der zweimalige Olympiasieger im Zeitfahren, und findet es „unglaublich“, wie Vogel ihr Schicksal meistert: „Sie ist eine große Inspiration für uns alle.“ Chris Hoy (42), der sechsmalige Bahnrad-Olympiasieger aus Großbritannien, sitzt auf der anderen Seite und fühlt sich „noch immer wie weggeblasen“. Kristina Vogel sei „einer der positivsten Menschen, die ich je erlebt habe“. Sie beweise eindrucksvoll, „wie viel Kraft und Lebensmut ein Mensch haben kann“.

Die junge Frau aus Erfurt beschäftigt sich nicht mit der Frage, warum das Leben ausgerechnet sie auf eine derart harte Probe gestellt hat. Warum sie nicht lieber aufgehört hat, nachdem ihr im Mai 2009 beim Straßentraining ein Auto die Vorfahrt genommen und sie mehrere Brüche und schwerste Gesichtsverletzungen davongetragen hatte. Wieso an jenem verhängnisvollen Dienstag im vergangenen Juni auf der Asphaltbahn in Cottbus ein junger Radfahrer aus den Niederlanden im Weg stand, mit dem sie ungebremst kollidierte. „Es gibt auf diese Fragen keine Antwort, es bringt mich nicht weiter, darüber nachzudenken“, sagt sie. In dunklen Stunden hilft ihr neben ihrem Lebenspartner, dem früheren Bahnradfahrer Michael Seidenbecher, und ihrer Familie der schwarze Humor („Ich habe jetzt den Vorteil, dass ich auf Behindertenparkplätzen große Parklücken habe“). Ansonsten blickt sie nur nach vorne: „Je schneller man es akzeptiert, desto schneller findet man zurück ins Leben.“

Keine acht Monate nach ihrem Unfall ist Kristina Vogel schon wieder in der Lage, um die Welt zu reisen. Andere verbringen nach solchen Verletzungen mindestens ein Jahr in der stationären Reha. Sie ist nur noch an drei Tagen in der Woche in einer ambulanten Einrichtung in Berlin. Neulich war sie auf einem Konzert von Clueso, der wie sie aus Erfurt stammt. Es war das erste Konzert ihres Lebens. Als Sportprofi hatte sie bislang entweder keine Zeit oder die Sorge, sich unter so vielen Menschen einen Infekt einzufangen. Auch dies gehört zu den Dingen, die sie schnell wertzuschätzen gelernt hat: „Man sollte sich nicht darüber beschweren, was man nicht mehr tun kann, sondern sich lieber darüber freuen, was man noch machen kann.“

Bei der WM in Polen wird Kristina Vogel als Kommentatorin im Einsatz sein. Im Weltverband UCI will sie sich dafür einsetzen, dass der Bahnradsport sicherer wird. In Erfurt stellt sie sich Ende Mai als parteilose Kandidatin auf der CDU-Liste für einen Platz im Stadtrat zur Wahl und will sich im Erfolgsfall, an dem niemand zweifelt, vor allem ums Thema Inklusion kümmern. Zudem plant sie, in ihren Beruf als Polizeihauptmeisterin der Bundespolizei zurückzukehren und irgendwann eine Familie zu gründen. Es gibt so vieles, was Kristina Vogel in der Zukunft vorhat – womöglich ja auch eine Karriere im paralympischen Sport. In der Reha hat sie bereits ihr Talent fürs Bogenschießen entdeckt.

Die Frage nach ihrer sportlichen Zukunft bekommt Kristina Vogel jedes Mal gestellt – zumindest vorläufig will sie sich damit aber nicht beschäftigen. „Ich war 18 Jahre lang Leistungssportlerin und habe wenig anderes getan, als zu trainieren und Wettkämpfe zu bestreiten“, sagt sie, „jetzt nehme ich mir erst einmal Zeit fürs Leben.“