Stuttgart will sich als Freizeitstadt neu erfinden

In Stuttgart haben sich die Hotelpreise zu den EM-Spielen teils vervierfacht. Über den schnellen Euro hinaus setzen Hoteliers und Stadt darauf, dass die internationalen Fans die Touristen der Zukunft sind.

Ganz Stuttgart will in einer Werbekampagne zum Stadion werden – damit Fans die kommenden Jahre als Touristen in die Landeshauptstadt zurückkehren.

© Lichtgut/Max Kovalenko

Ganz Stuttgart will in einer Werbekampagne zum Stadion werden – damit Fans die kommenden Jahre als Touristen in die Landeshauptstadt zurückkehren.

Von Daniel Gräfe

Stuttgart - Wer je vergessen sollte, an welchen Tagen in Stuttgart ein Spiel der Fußball-EM ausgetragen wird, kann einen Blick auf die großen Hotelportale im Internet werfen. Wenn der Ball rollt, spielt die Hotelbranche in derselben Mannschaft und hebt geschlossen die Preise drastisch an – egal, ob es sich um das Fünf-Sterne-Haus oder die Budget-Kette handelt. Die Kosten vermitteln sogar einen Eindruck, wie viele Fans zu den Spielen erwartet werden.

Der Preis für das Doppelzimmer im Steigenberger gegenüber dem Stuttgarter Hauptbahnhof steigt am 23. Juni zum Spiel Schottland gegen Ungarn Richtung 600 Euro, um tags darauf knapp unter die 200-Euro-Marke zu fallen. Rund 400 Euro zahlt man derzeit für eine Übernachtung am 16. Juni, wenn Slowenien gegen Dänemark spielt.

Auf der Budget-Seite greifen die gleichen Mechanismen. Das Ibis am Marienplatz ist am 23. Juni auf Booking.com schon ausgebucht, das Doppelzimmer kostet tags zuvor 343 Euro – und wäre an einem normalen Tag schon für rund 80 Euro zu buchen. Weder das Steigenberger noch der Accor-Konzern, zu dem Ibis zählt, wollen auf Anfrage über Auslastung und Preisgestaltung sprechen, wie auch andere Hotelbetreiber die hohen Aufschläge zur EM offensichtlich nicht gerne an die große Glocke hängen.

Wer jetzt noch zu den beliebtesten Zeiten eine Unterkunft sucht, muss in Stuttgart im Schnitt oft einige Hundert Euro für das Doppelzimmer begleichen. Dabei gilt der alte Maklerspruch, dass die Lage alles ist. So sind die Zimmer in den schicken SI Suites deutlich günstiger, weil man sich fernab des Stadions im Stadtteil Möhringen betten muss. Wer in Stadionnähe nächtigen will, zahlt für etwas Bequemlichkeit in der Regel obendrauf.

Zwischen 500 und 800 Euro kostet auf Booking.com ein Doppelzimmer derzeit im Elha Hotel an den Spieltagen – zur Partie Schottland gegen Ungarn wird gar die 1000-Euro-Marke geknackt, wobei die Direktbuchung um einiges günstiger ist. Nicht verwunderlich, stehen doch vor allem Besucher aus Großbritannien und Ungarn auf den Buchungslisten der 37 Zimmer, wie Benzigül Aras erklärt, an diesem Tag sei das Haus zu fast 90 Prozent belegt.

Doch selbst im EM-Monat laufen die Geschäfte nicht immer gut: Der Familienbetrieb, der im vergangenen November eröffnete, ist für die spielfreien Tage Ende Juni noch buchungsfrei. „An manchen Tagen verdienen wir überhaupt nichts, obwohl wir von 5 Uhr morgens bis Mitternacht im Einsatz sind – die Ausgaben aber laufen weiter“, sagt Aras. „Das Geschäft mit der EM ist deshalb für uns sehr wichtig – wir vergleichen dabei die Preise der anderen Hotels.“

Schon jetzt hat das Geschäft mit den Übernachtungen in Stuttgart fast das Niveau der Vor-Corona-Jahre erreicht. Die Kongresse und Tagungen sind wieder zurück, die Messeveranstaltungen laufen gut. Mit der EM will man nicht nur endgültig die Pandemie überwinden, sondern weiter wachsen. „Die EM soll Stuttgart stärker als Freizeitstadt in den Fokus stellen“, sagt Andrea Gehrlach von der Stuttgart-Marketing GmbH. „Wir wollen zeigen, wie attraktiv Stuttgart als Reiseziel ist.“

Noch immer gilt Stuttgart als geschäftsmäßige Autostadt – hochkarätige Museen, Volksfeste, Kulturevents, Weinberge, Wilhelma und Weihnachtsmarkt hin oder her. Geschäftsreisende machen mit rund 70 Prozent das Gros der Übernachtungen aus. Stuttgart-Marketing hat deshalb einen Werbefilm produzieren lassen, der unter dem Slogan „Die ganze Stadt ein Stadion“ die Freizeitattraktionen streift. Dazu gibt es spaßige Parolen wie „Hol dir das Triple“ für Linsen, Saiten und Spätzle oder „So schön kann Abseits sein in Stuttgart“ für die Weinberge, um Stuttgarts Image als Genussregion zu schärfen.

Während man mit Film und Plakaten vor allem in anderen Austragungsstädten wirbt, hat man teils vorab für internationale Zuschauer drei Dutzend einflussreiche Influencer aus den reisefreudigsten EM-Ländern eingeladen, die über die schönsten Ecken berichten sollen.

Allein aus Schottland, Ungarn und Slowenien werden mehr als 100 000 Fans erwartet. Während der EM setzt man darauf, dass die Bilder des pittoresken Schlossplatzes mit dem Public Viewing weltweit Aufsehen erregen.

Mit guten Fangeschäften rechnet man aber auch in der Region und in Teilen Baden-Württembergs. „Rückmeldungen von Mitgliedern lassen darauf schließen, dass die EM durchaus positive Effekte über Stuttgart hinaus hat“, teilt der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga mit. „Dies dürfte für die Region rund um Stuttgart gelten, aber auch für die Städte und Regionen, die EM-Mannschaften beherbergen“. So ist in Freudenstadt die dänische und in Donaueschingen die spanische Mannschaft untergebracht.

Vor allem aber hofft der Dehoga, dass die Fanberichte und Fernsehbilder aus Baden-Württemberg die Reiselust auch der Daheimgebliebenen wecken: „Neben den unmittelbaren Effekten bietet die EM die Chance, nachhaltig für Baden-Württemberg als gastfreundliche, attraktive Tourismusregion zu werben.“

Nach der Fußball-WM 2006 hatten Stuttgart und das Land schon einmal deutlich mehr internationale Besucher beherbergt – bis die Finanzkrise kam. „Dass sich der Anteil der internationalen Touristen erhöht, erwarten wir auch jetzt“, sagt Andrea Gehrlach von der Stuttgart-Marketing GmbH. Vielleicht werden auch in den kommenden Sommern wieder die Schotten kommen.

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Erstellt:
28. April 2024, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
29. April 2024, 22:01 Uhr

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