Illusion der Genauigkeit

In Bremen wurde dem VfB ein klarer Strafstoß verweigert, weil Guirassy zuvor im Abseits gestanden hatte. Aber tat er das wirklich? Einblicke in die Welt der kalibrierten Linien.

Von Gregor Preiß

Stuttgart - Es gab Spielzeiten und Phasen einer Saison, da hatte der VfB Stuttgart in schöner Regelmäßigkeit mit dem VAR zu hadern. In dieser Saison war das bisher anders – bis zum Spiel in Bremen. Bei der 1:2-Niederlage am vergangenen Sonntag entschied der Video Assistant Referee, besser bekannt als Videoschiedsrichter oder in der abschätzigeren Version Kölner Keller genannt, gleich zweimal zuungunsten der Stuttgarter. Einmal nach einem vermeintlichen Foulspiel an Angelo Stiller im Strafraum. Ein weiteres Mal nach einem von Schiedsrichter Robert Schröder als solches identifizierten und ebenfalls im Strafraum begangenen Foul an Serhou Guirassy. Es hätte einen Strafstoß und die Chance auf den Ausgleich zum 2:2 zur Folge gehabt – hätte Guirassy nicht im Abseits gestanden.

Es war eine dieser hauchdünnen Situationen, die mit dem bloßen Auge nicht aufzuschlüsseln sind. Problem: Mithilfe der Fernsehbilder war sie das auch nicht.

Fast vier Minuten dauerte es, bis sich Videoreferee Felix Zwayer nach Betrachtung mehrerer Fernsehbilder festlegte. „Es war schon sehr lange“, bekannte Feldschiedsrichter Schröder. „Aber wenn am Ende die richtige Entscheidung steht, ist es das wert.“ Nur: War die Entscheidung wirklich richtig? Stand Guirassy beim Zeitpunkt der Vorlage wirklich am nächsten zum Bremer Tor? Und wie wird der Zeitpunkt des Abspiels eigentlich genau bemessen?

Auf den Fernsehbildern aus Bremen (von der „16er hoch“-Kamera) war mit menschlichem Auge und Ermessen keine Abseitsposition zu erkennen. „Das ist nicht gut gelaufen“, räumt Alex Feuerherdt ein, der Kommunikationschef der neu gegründeten Schiri GmbH beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) ist. „Das Bild, das man im Fernsehen gesehen hat, hat für viel Verwirrung gesorgt.“ Eine andere, letztlich für den Unparteiischen relevante Perspektive sei eindeutiger gewesen. Diese stammte von der Torlinienkamera.

Bei Abseitsentscheidungen werden sogenannte kalibrierte Linien herangezogen. Ein Begriff aus der Messtechnik. Kalibrieren bedeutet so viel wie exakt anlegen. Die Linie wird bei den Spielen der Fußball-Bundesliga per Computer generiert und anschließend auf das Spielfeld projiziert – manuell von den Videoschiedsrichtern am Bildschirm. Laut Deutscher Fußball-Liga (DFL) berücksichtigt die Computersoftware „den Betrachtungswinkel, die Linsenverzerrung und die Feldkrümmung“. So könne die Software eine „präzise, auf den Millimeter genaue Abseitsstellung“ bestimmen.

Millimetergenau? Daran gibt es fast wöchentlich Zweifel. In aller Regel achten Zuschauer und Schiedsrichter bei knappen Entscheidungen auf das exponierteste Körperteil des Angreifers, was Uefa-Präsident Aleksander Ceferin einst zu dem spöttischen Kommentar veranlasste: „Wenn du heutzutage eine große Nase hast, stehst du im Abseits.“ Viel entscheidender in der Betrachtung sollte jedoch der Ausgangspunkt der möglichen Abseitsstellung sein: der Zeitpunkt des Abspiels. Hier geht es um Millisekunden. Dieser entscheidende Bruchteil einer Sekunde, in dem der Ball den Fuß des Zuspielers verlässt, ist im heutigen Hochgeschwindigkeitsfußball oftmals aber kaum zu bestimmen. Fußballer sprinten teilweise mit 35 Stundenkilometern übers Feld. In einer Hundertstelsekunde legen sie im Vollsprint etwa zehn Zentimeter zurück – was anschließende Abseitsentscheidungen im Millimeterbereich ad absurdum führt.

Alex Feuerherdt erläutert, wie der Moment des Abspiels in den ersten beiden deutschen Ligen genau determiniert wird. „Der Operator zeigt dem VAR drei verschiedene Frames (Bildausschnitte; d. Red.). Der VAR entscheidet über den exakten Moment des Abspiels und legt dann die Linie an.“ Mit anderen Worten: Er kann diesen sehr kurzen Moment anhand dreier Bilder nicht mit letzter Genauigkeit bestimmen.

Der Schiedsrichter-Experte räumt ein, dass sich der Moment der Ballabgabe mit menschlichem Auge nicht eindeutig festlegen lässt. Auch, weil nur 50 Frames pro Sekunde zur Verfügung stehen. Das Ergebnis ist weniger genau als mit 250, 500 oder 1000 Bildern pro Sekunde. Die einstige Grundannahme bei Einführung des Videobeweises im Jahr 2017, dass das technische Helferlein zumindest bei Abseitsentscheidungen zu hundert Prozent richtig liegt, ist widerlegt. Die Genauigkeit ist eine Illusion.

Was also tun? Eine Toleranzgrenze von zehn oder 20 Zentimetern, wie von vielen Experten immer wieder vorgebracht, würde das Problem nur verschieben. Die einzige Lösung wäre wohl die halb automatische Abseitstechnologie. Sie wird bereits in der Premier League praktiziert, auch bei der EM im Sommer wird sie zur Anwendung kommen. Ein Chip im Ball und Sensoren unter dem Stadiondach nehmen die genaue Vermessung von Ball und Spielern vor. „Das System ist natürlich deutlich genauer“, sagt Feuerherdt. „Sobald die DFL und die Vereine das wollen, machen wir das.“

Wie zu hören ist, will sich die DFL Ende des Jahres mit den Vereinen über die mögliche Neuerung beratschlagen. Eine Einführung zur Saison 2025/26 wird angestrebt. Dabei fallen hohe Anschaffungskosten an. Zumindest ein Vorteil wäre aber gegeben: Die Überprüfung geht im Schnitt 40 Sekunden schneller.

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Erstellt:
24. April 2024, 22:04 Uhr
Aktualisiert:
25. April 2024, 21:45 Uhr

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