Angst und Auflagen: Kinder wegen Corona seltener in Klinik

dpa/lsw Stuttgart. Der Lockdown hat Spuren auch in den Statistiken der Kinderkliniken hinterlassen. Operationen wurden verschoben, es wuchs die Angst vor Infektionen. Und natürlich knickt auch seltener um, wer stets daheim hockt. Doch vor allem in einem Bereich gibt es Grund zur Sorge.

Ein Arzt untersucht im Olgahospital des Klinikums Stuttgart ein Kind. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Ein Arzt untersucht im Olgahospital des Klinikums Stuttgart ein Kind. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Wegen der Corona-Auflagen, der Angst vor Ansteckungen und durch die eingeschränkte medizinische Versorgung sind laut einer Studie im Lockdown im Frühjahr etliche Operationen und Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen verschoben worden. Besonders starke Rückgänge gab es im vergangenen März und April bei den Behandlungen von Infektionen, Augen- und Ohrenerkrankungen sowie Atemwegserkrankungen, wie aus dem Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit hervorgeht, der der dpa vorliegt. Stationäre Einweisungen wegen Depressionen hingegen nahmen deutlich zu.

In einigen Bereichen wie bei den Infektionskrankheiten und Stürzen dürfte die Entwicklung auch die logische Konsequenz der Kontaktbeschränkungen sein. Denn wer den ganzen Tag zu Hause verbringt und Abstand hält, der steckt sich weniger an und knickt auch seltener um. Mediziner erwarteten dennoch einen Anstieg von schweren Verläufen bei chronischen Erkrankungen von Kindern. Siegfried Euerle, Landeschef der DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg, spricht von einer „Gefahr von Folgeschäden“.

Laut DAK-Report fiel im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast jede zweite Operation von Kindern und Jugendlichen aus (minus rund 46 Prozent). Insgesamt seien die Krankenhausfälle im Südwesten um rund 38 Prozent zurückgegangen, drei Prozentpunkte weniger als im Bundesdurchschnitt. Gründe seien verschobene Behandlungen durch die Krankenhäuser und weniger Klinikbesuche aus Angst der Eltern vor Infektionen gewesen, heißt es in der Studie, die die Universität Bielefeld erstellt hat.

Aus dem täglichen Klinikalltag kann der Stuttgarter Mediziner Jan Steffen Jürgensen diese Entwicklung bestätigen. „Im Frühjahr 2020 wurden in den Krankenhäusern viele nicht dringende stationäre und ambulante Behandlungen deutlich reduziert“, sagte der Vorstandsvorsitzende des Klinikums Stuttgart, zu dem auch Deutschlands größte Kinderklinik, das Olgahospital, gehört. „Aber auch aus Angst vor Ansteckung oder wegen der eingeschränkten Besuchsregelungen haben Eltern Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte gemieden oder aufgeschoben.“ Viele Krankheiten seien so erst verzögert diagnostiziert und in komplizierten Stadien behandelt worden.

Nach Angaben Jürgensens wurden unter anderem in der Kindernotaufnahme des Klinikums deutlich mehr Blinddarmentzündungen vorgestellt, die bereits zum Blinddarmdurchbruch geführt hatten. Auch die Zahl der neu diagnostizierten Leukämien bei Kindern ging zunächst zurück, weil Praxen seltener aufgesucht wurden. „Sie konnten erst später als Häufung fortgeschrittener Verläufe erkannt und therapiert werden“, sagte der Mediziner. Bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus sei die Versorgung ebenfalls zeitweise schwerer geworden.

Am deutlichsten sei die Fallzahl im ersten Halbjahr 2020 bei den stationären Aufenthalten wegen akuter Mandelentzündungen (minus 75 Prozent) und den Darminfektionen (minus 72 Prozent) gesunken, heißt es in der Studie weiter. Auch bei den akuten Bronchitisfällen sanken die Zahlen im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 (minus 56 Prozent), ebenso bei Bauch- und Beckenschmerzen.

Dagegen nahmen stationäre Behandlungen wegen Depressionen nach Angaben der Bielefelder Wissenschaftler um 20 Prozent zu. Streit in den Familien bis hin zur häuslichen Gewalt schienen zuzunehmen, sagte Ralf van Heek vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. „All dies lässt befürchten, dass die Pandemiefolgen für unsere Kinder insbesondere im psycho-sozio-emotionalen Bereich noch wesentlich gravierender sein werden als im ersten Lockdown 2020“, sagte er.

„Die Corona-Delle bei den Kinder-Operationen und Behandlungszahlen birgt die Gefahr von Folgeschäden“, warnte zudem Siegfried Euerle, der Landeschef der DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg. Das Gesundheitssystem müsse für Eltern und Kinder aber so sicher sein, dass sie sich vertrauensvoll versorgen lassen könnten. „In der aktuellen Corona-Diskussion spielt die Kinder- und Jugendgesundheit in Baden-Württemberg eine zu geringe Rolle und das müssen wir ändern“, sagte Euerle.

Laut DAK-Report erreichte die Versorgungssituation der Kinder und Jugendlichen in den Krankenhäusern des Landes rund zwei Monate nach dem Lockdown wieder Werte, die denen des Vorjahres entsprachen. Womöglich wegen der Kontaktbeschränkungen seien Atemwegs- und Infektionserkrankungen aber auch Ende Juni noch deutlich seltener als im Vorjahr im Krankenhaus behandelt worden.

Nach Angaben der DAK wurden anonymisierte Krankenhausdaten von mehr als 85 000 DAK-versicherten Kindern und Jugendlichen aus Baden-Württemberg unter 17 Jahren untersucht. Analysiert worden seien deren Krankenhausaufenthalte aus dem ersten Halbjahr 2019 und demselben Zeitraum 2020. Der repräsentative Report basiere auf Daten von 4,7 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Bundesland. Die DAK-Gesundheit ist nach eigenen Angaben die drittgrößte Krankenkasse Deutschlands.

© dpa-infocom, dpa:210215-99-443389/5

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Erstellt:
15. Februar 2021, 06:01 Uhr

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