Besorgniserregende Nachrichten zu Polio

Erreger der Kinderlähmung im Abwasser deutscher Städte entdeckt

Polio gilt als nahezu ausgerottet. Doch zuletzt kam es vermehrt zu Nachweisen des Erregers auch in reicheren Ländern mit hoher Impfquote. Nun wurde das Virus auch in Deutschland gefunden.

Eine Gesundheitshelferin verabreicht einem Kind in einem Stadtteil von Lahore in Pakistan eine Dosis mit Polio-Impfstoff.

© AP/dpa/K.M. Chaudary

Eine Gesundheitshelferin verabreicht einem Kind in einem Stadtteil von Lahore in Pakistan eine Dosis mit Polio-Impfstoff.

Von Markus Brauer/dpa

In Proben aus dem Abwasser von vier deutschen Städten sind nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin Polioviren nachgewiesen worden. Betroffen seien München, Bonn, Köln und Hamburg. Bisher wurden keine Polio-Verdachtsfälle oder -Erkrankungen an das Bundesinstitut übermittelt.

Bei den gefundenen Erregern handelt es sich demnach nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um Viren, die auf die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung mit abgeschwächten, aber lebenden Polio-Erregern zurückgehen.

Erreger aus dem Ausland eingeschleppt

Die kursierenden Erreger wurden wahrscheinlich von Menschen eingeschleppt, die in ihrem Land die vor allem in Afrika und Asien noch weit verbreitete Schluckimpfung erhalten haben. Die Viren können von Geimpften bis zu sechs Wochen lang ausgeschieden werden.

Das RKI weist darauf hin, dass hierzulande bei anhaltender Zirkulation des Erregers einzelne Erkrankungen unter nicht ausreichend geschützten Personen möglich sind. Die Wahrscheinlichkeit sei aber aufgrund der allgemein hohen Impfquoten von bundesweit 90 Prozent und guten Hygienebedingungen in Deutschland gering.

Zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen

Poliomyelitis - kurz Polio - ist eine hochansteckende Krankheit, die bei nicht ausreichend immunisierten Menschen zu dauerhaften Lähmungen führen kann. Bestehende Impflücken sollten geschlossen werden, rät das RKI. Medizinisches Personal und Mitarbeitende im öffentlichen Gesundheitsdienst sollten stets eine erhöhte Wachsamkeit bei Poliomyelitis-typischen Symptomen haben.

„Der Nachweis an verschiedenen Orten weist auf eine Zirkulation dieser Viren hin“, heißt es seitens des RKI. Die Landesbehörden aller Bundesländer und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seien über die Nachweise informiert worden. Weitere Proben würden derzeit noch untersucht. Auch in Spanien (Barcelona) und Polen (Warschau) sei das Virus kürzlich in Abwasserproben nachgewiesen worden.

Vermehrung der Impfviren birgt Risiko

Erhält jemand die Schluckimpfung, können sowohl der Impfling selbst als auch Kontaktpersonen – in sehr seltenen Fällen – an einer Impf-Polio erkranken. Die Symptome sind von Polio durch Wildviren nicht zu unterscheiden. Eine fortlaufende Vermehrung der Impfviren birgt das Risiko, dass der abgeschwächte Erreger sich verändert und das Nervensystem zu infizieren vermag – mit den poliotypischen Lähmungen als möglicher Folge.

Polio wird auch Kinderlähmung genannt, weil der Erreger einst so verbreitet war, dass der Kontakt damit meist schon im Kindesalter erfolgte. Vor allem Kleinkinder waren von den poliotypischen Lähmungen betroffen – meist mit bleibenden Schäden fürs ganze Leben. Eine Therapie gibt es bisher nicht.

Wie Poliomyelitis verbreitet wird

Verbreitet wird das hochansteckende Virus meist über kontaminierte Hände als sogenannte Schmierinfektion, in Ländern mit unzureichendem Hygienestandard auch über verunreinigtes Wasser.

Polio gilt aufgrund engagierter Impfkampagnen seit Jahren als weltweit nahezu ausgerottet. Menschen, die vollständig gegen Polio geimpft wurden, sind vor der Erkrankung geschützt. In Deutschland werden Babys ab zwei Monaten geimpft.

Polio-Erkrankungen in anderen Ländern

Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren waren in den vergangenen Jahren auch in anderen hochentwickelten Regionen wie dem US-Bundesstaat New York, London und Jerusalem nachgewiesen worden. Auch Erkrankungen wurden gemeldet.

Da eine Infektion nach RKI-Angaben nur in etwa einem von 200 Fällen zu den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen führt, und das zudem nur bei Ungeimpften, kann ein solcher Fall hunderte Infizierte ohne Symptome in der Region bedeuten.

Infizierung über den Verdauungstrakt

Das Poliovirus ist ein sogenanntes Enterovirus, das in erster Linie den Verdauungstrakt infiziert. Vor Einführung von Schutzimpfungen gab es allein in Deutschland Tausende Erkrankte und Hunderte Todesfälle jährlich.

Inzwischen existieren weltweit zwei Arten von schützenden Impfstoffen:

  • eine Schluckimpfung, die abgeschwächte vermehrungsfähige Impfviren enthält (OPV)
  • ein inaktivierter Polioimpfstoff (IPV), der in den Muskel gespritzt wird.

In Deutschland wird seit 1998 ausschließlich IPV-Impfstoff verimpft.

Schluckimpfung vs. Spritze

Doch wenn es eine ungefährliche Alternative gibt, warum ist die Schluckimpfung dann überhaupt noch im Einsatz? Ursache ist vor allem eine Eigenheit der inaktivierten Polio-Impfstoffe. Sie verhindern zwar Erkrankungen sehr gut, nicht aber eine Infektion und die Weitergabe des Erregers. In der Folge kann das Virus unbemerkt weite Kreise ziehen. Gerade in Ländern mit niedriger Impfquote kann das gefährlich werden.

Vor allem in Afrika und Asien wird darum noch verbreitet auf die Schluckimpfung gesetzt, die auch vor Ansteckung und damit vor einer großflächigen Weitergabe schützt. Das sehr geringe Risiko eines Impfpolio-Falls wird in Kauf genommen zugunsten einer großflächigen Immunisierung der Bevölkerung.

Routine-Impfung vielfach ausgesetzt

Das Ziel, nach der Ausrottung der Pocken im Jahr 1980 auch Polio Geschichte werden zu lassen, wurde bislang verfehlt, auch wenn Polio-Wildviren fast nur noch in Pakistan und Afghanistan zirkulieren.

Ein Problem ist, dass Routine-Impfungen wie die gegen Polio in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen wurden. Dadurch stieg auch das Risiko, dass Polio sich international wieder ausbreitet.

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Erstellt:
28. November 2024, 17:22 Uhr
Aktualisiert:
28. November 2024, 21:36 Uhr

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