Kanzleramtschef: „Herdenimmunität“ untauglich gegen Corona

dpa Berlin. Kanzlerin Angela Merkel setzt auf vorsichtige Lockerungen der harten Beschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus. Nicht jedem gefällt das. Doch der Kanzleramtschef warnt vor hohen Infektionszahlen.

Helge Braun, Mediziner und Chef des Kanzleramtes. Foto: Oliver Killig/zb/dpa

Helge Braun, Mediziner und Chef des Kanzleramtes. Foto: Oliver Killig/zb/dpa

Kanzleramtschef Helge Braun hält die Strategie einer „Herdenimmunität“ für untauglich im Kampf gegen das Coronavirus in Deutschland.

„Um nur die Hälfte der deutschen Bevölkerung in 18 Monaten zu immunisieren, müssten sich jeden Tag 73.000 Menschen mit Corona infizieren“, sagte Braun der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „So hohe Zahlen würde unser Gesundheitssystem nicht verkraften und könnten auch von den Gesundheitsämtern nicht nachverfolgt werden. Die Epidemie würde uns entgleiten.“

Mit Herdenimmunität meinen Wissenschaftler die Immunität eines so großen Prozentsatzes der Bevölkerung nach einer Infektionswelle, dass die weitere Ausbreitung der Krankheit zum Erliegen kommt. „Eine Epidemie ist erst zu Ende, wenn ein Anteil von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun gegen das Virus ist“, erklärte Braun, der selbst Arzt ist. „Die Wissenschaftler nennen das etwas schmeichelhaft Herdenimmunität.“ Stattdessen setzt der CDU-Politiker auf den Kurs der Bundesregierung um Kanzlerin Angela Merkel: „Daher lautet die Strategie, Ansteckungen zu vermeiden und bezüglich der Immunität auf die Einsatzfähigkeit eines Impfstoffs zu warten.“

Merkel hatte in den vergangenen Wochen verschiedene Kennziffern genannt, die als wichtig für den weiteren Verlauf der Pandemie gelten. Auf die Frage, woran zu erkennen sei, dass die Bundesrepublik bei der Bekämpfung des Virus auf einem guten Weg sei und zusätzliche Lockerungen der harten Beschränkungen möglich seien, sagte Braun nun: „Die Zahl der täglichen Neuinfektionen sollte auf einem gleichbleibenden Niveau sein. Das entspricht einem Basisreproduktionszahl R von 1,0 und bedeutet, dass ein Infizierter nur einen weiteren Menschen ansteckt.“

Schon wenn nur jeder zehnte Corona-Patient zwei weitere Menschen infiziere, „steigen die Infektionszahlen in einigen Monaten auf ein bedrohliches Niveau an“, warnte Braun. „Das macht deutlich, wie diszipliniert wir in der Öffnungsphase handeln müssen.“

Die zu Beginn der Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland von der Kanzlerin genannte Verdopplungszeit der Infektionszahlen sei ein wichtiger Indikator, wenn die Zahlen akut exponentiell steigen würden, wie Mitte März, sagte Braun. „Das ist zurzeit zum Glück nicht mehr der Fall - und doch sollten wir sie im Auge behalten.“

Als „sehr ernst zu nehmen“ bezeichnete Braun die von Südkorea angewandte Strategie, das Virus nahezu ganz auszurotten und dann wieder zur Normalität überzugehen. „Politisch müssen wir bedenken, dass Deutschland sich mitten in Europa aufgrund der Pendlerströme und Wirtschaftsverkehre nicht so gut abschotten kann und will“, schränkte er aber ein. „Selbst wenn wir das Virus stark zurückdrängen, kommt es dann aus dem Ausland immer wieder zurück.“

„Deshalb brauchen wir auch bei niedrigen Neuinfektionszahlen dennoch die breiten Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln“, sagte Braun. Er unterstrich: „Je niedriger die Infektionszahlen, desto besser gelingt uns die Kontaktnachverfolgung und damit die Unterbrechung der Infektionsketten.“ Deshalb werde gerade das Personal in den Gesundheitsämtern aufgestockt.

Zudem arbeiteten Expertenteams unter Hochdruck an einer „App“ zur Kontaktnachverfolgung, sagte der Kanzleramtschef. „Jetzt sind wir aber in einem Stadium angekommen, wo wir die Unterstützung der großen Digitalunternehmen brauchen, weil wir Anpassungen der wesentlichen Handy-Betriebssysteme benötigen.“ Er hoffe, dass das schnell gehe. „Aber wir haben es selber nicht allein in der Hand. Deshalb muss man inzwischen leider sagen, es dauert noch länger als einige Tage.“

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Erstellt:
19. April 2020, 08:12 Uhr

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