Interview mit der Patenautorin der Backnanger Literatour

Backnanger Literatour Die Patenautorin der Kinder- und Jugendliteraturwoche 2022 ist Antonia Michaelis. Im Interview spricht sie über Geschichten hinter den Geschichten, wohltätige Projekte und Themen, die ihr besonders am Herzen liegen.

„Das Leben ist eine lange Zugfahrt“, sagt Antonia Michaelis. Auch nach Backnang fährt sie mit dem Zug. Heute um 19 Uhr hält sie die Festrede beim Literatour-Auftakt im Bürgerhaus. Am Montag um 19 Uhr gibt es im Bürgerhaus eine öffentliche Lesung mit ihr. Foto: Ralph Brugger

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„Das Leben ist eine lange Zugfahrt“, sagt Antonia Michaelis. Auch nach Backnang fährt sie mit dem Zug. Heute um 19 Uhr hält sie die Festrede beim Literatour-Auftakt im Bürgerhaus. Am Montag um 19 Uhr gibt es im Bürgerhaus eine öffentliche Lesung mit ihr. Foto: Ralph Brugger

Wie wollen Sie Ihre Zeit als Patenautorin der Literatour gestalten? Gibt es Freiräume außerhalb der Lesungen, die auf dem Programm stehen?

Ich werde sicher ein wenig durch das schöne Backnang wandern, vor allem aber muss ich leider arbeiten, und es ist toll, das auf Lesereisen in netten Cafés zu tun. Zu Hause komme ich im Moment nicht zum Schreiben, da ich mit unseren Theaterkids auf der Bühne stehe.

Ihr Jugendroman „Weil wir träumten“ ist in diesem Jahr erschienen. Er entführt die Leser nach Madagaskar. Dort haben Sie eine Schule mit aufgebaut. Welche Erfahrungen auf der Insel gaben den Ausschlag, dass Madagaskar zum Schauplatz in einem Buch wird?

Das Buch spielt auf der Île aux Nattes, einer kleinen und sehr hübschen Insel, auf der wir auch Urlaub gemacht haben. Dort haben wir andere Urlauber getroffen, die im Gegensatz zu uns nicht im Land lebten und nur die Insel, den Strand, die Muscheln und Palmen kennenlernten. Touristen, die zum Beispiel ihre Hochzeit dort im weißen Sand ausrichteten und für ein Homevideo in Zeitlupe über den Strand schwebten.

Verstehe, das ist nicht Ihre Welt.

Offenbar haben sie es geschafft, auf dem Weg dorthin die Augen im Bus zuzumachen, denn wir hörten dann Dinge über „malerische Armut“ und Menschen, die „arm, aber glücklich“ waren. Wenn man schon eine Weile im Land gelebt hat und gesehen hat, wie Menschen unter einer korrupten Regierung verhungern, Kinder von Schule nur träumen können und ständig an vermeidbaren Krankheiten sterben, reagiert man da allergisch. Meine Allergie hat einen Roman produziert.

In Ihrem Grußwort zur Literatour ermutigen Sie die Backnanger, selbst Pate zu werden. Und zwar eines Kindes, das ohne Paten nicht zur Schule gehen und keine Bücher kennenlernen dürfte. Was genau hat es mit dem Lycée Les Pigeons auf sich, das Sie erwähnen?

Les Pigeons ist ein Zufallsprodukt. Mir laufen ständig seltsame Menschen oder Kinder oder Katzen zu, die Hilfe brauchen, in diesem Fall ist mir eine Schule zugelaufen. Es gab sie damals zwar, in einem maroden Schuppen ohne Fenster und mit quasi nicht bezahlten Lehrkräften. Aber nachdem wir einen Film zusammen gedreht hatten und die Schule aus dem Gebäude flog, da es privat genutzt werden sollte, mussten wir einfach eine Schule bauen. Und dann gleich eine richtige auf eigenem Grundstück.

Die Schule musste also gerettet werden.

Les Pigeons war vorher schon eine soziale Schule, die also auch Kinder, die nicht bezahlen können, nicht gleich nach Hause schickt. 13 Jahre lang hatte Holy, die Direktorin, umsonst für die Schule gearbeitet. Inzwischen bekommt sie, wie alle unsere jetzt 45 Lehrer, ein regelmäßiges Gehalt, und durch die Paten und Spender in Deutschland finanzieren wir zirka 150 Kindern Schulbildung, Material, gesunde Ernährung und Zugang zu medizinischer Behandlung, wenn nötig. Die Schule ist bunt und hat einen Schwerpunkt auf Umweltunterricht und Nachhaltigkeit, was in Madagaskar, glaube ich, so sonst nicht existiert. Wir haben auch ein Kinderhaus, bauen im Moment das zweite Kinderhaus und helfen jetzt akut einer weiteren Schule im noch ärmeren Süden des Landes. Für diese Südkinder, die nichts besitzen, suchen wir Paten.

Auch schreiben Sie in dem Grußwort, dass Sie Geschichten verfassen, die manchmal wehtun. Welche Themen liegen Ihnen sonst noch besonders am Herzen, die Sie vielleicht noch gar nicht literarisch umgesetzt haben?

Hm, ich fürchte, ich habe alles schon mal literarisch „verwurstet“, vor allem beschäftige ich mich ja, auch im Leben, mit sozialen Randgruppen. Wobei das schrecklich „patronizing“ klingt, vermutlich sind wir alle unsere eigene soziale Randgruppe. Was noch nicht in Büchern steht? Vielleicht wird es demnächst mal einen Roman geben, der sich mehr mit dem Weg weg vom Digitalen und den sozialen Medien und weg vom totalen Überfluss, vom Internet, vom Alles-aussuchen-und-alles-immer-haben-Können beschäftigt – zumal dies auf Kosten der dritten Welt passiert. Das ist noch ein anderes Thema. Im „Blaubeerhaus“ haben wir das ja schon im Kinderbuchbereich gehabt, Leben ohne Strom und fließend Wasser – wie ja auch in Madagaskar. Kann nerven, tut aber auch ganz gut. Und führt zu interessanten Ergebnissen, die manchmal auch sehr lustig sind.

Aus welchem Buch oder aus welchen Büchern wollen Sie bei der öffentlichen Abendveranstaltung am Montag, 14. November, lesen? Sie schreiben ja auch Bücher für Erwachsene.

Das wird entweder „Weil wir träumten“ oder „Die Wiederentdeckung“ des Glücks, beides Madagaskarbücher.

Sie haben Medizin studiert, schon vor dem Studium haben Sie auch Geschichten geschrieben. Was gab den Ausschlag, dass Sie die Medizin an den Nagel gehängt und sich ganz der Schriftstellerei gewidmet haben?

Ich habe eigentlich nur versehentlich Medizin studiert. Geschrieben habe ich schon immer.

Welches waren Ihre Lieblingsbücher in der Kindheit?

Alles von Astrid Lindgren und Michael Ende, Ottfried Preußler – und die „Katze mit Hut“ und „Kaninchen Kasimir“ und „Der Wind in den Weiden“. Und sicher habe ich jetzt was vergessen...

Ziel der Literatour ist es ja, die Schüler fürs Lesen zu begeistern. Doch leider ist nicht immer Literatour. Wie bringt man Kinder zum Lesen?

Gar nicht. Lesen ist keine Pflicht, sondern Luxus. Lesen muss man nicht, lesen darf man. Mir ist egal, ob Kinder lesen. Übrigens haben die meisten Erwachsenen auch ständig keine Zeit dazu. Ich finde, lesen ist toll, eine billige Freizeitbeschäftigung, und klar, es öffnet Horizonte. Macht Menschen auch unbequem – wer zu viel liest, widerspricht den Lehrern. Aber wenn jemand nicht lesen will, auch gut. Zwingen ist immer schlecht. Vorlesen hilft natürlich, in Familien, in denen vorgelesen wird, unabhängig vom Alter des Kindes, lesen Kinder auch häufiger selbst. Wer will, dass sein Kind liest, sollte die Bücher vermutlich einsperren und nur selten eins rausrücken. Was rationiert wird, ist ja immer interessanter. Aber wie gesagt, niemand muss lesen.

Das Gespräch führte Ingrid Knack.

Einblicke in die Vita der Autorin

Unterrichten Antonia Michaelis wurde in Kiel geboren und verbrachte die ersten beiden Jahre ihres Lebens in einem Dorf an der Ostsee. Dann zog sie mit ihren Eltern nach Augsburg. Nach dem Abitur ging sie für ein Jahr nach Südindien, um an einer kleinen Schule nahe Madras zu unterrichten, vor allem Englisch, Kunst und Schauspiel.

Medizin, Schreiben und mehr Anschließend studierte sie in Greifswald Medizin, reiste durch die Weltgeschichte, arbeitete in einigen kleinen Krankenhäusern und begann, Bücher für Menschen aller Altersgruppen zu veröffentlichen. Heute lebt Antonia Michaelis in einem kleinen Dorf gegenüber der Insel Usedom. Sie arbeitet für mehrere Verlage und, dramaturgisch, für die Montessorischule Greifswald – und verbringt den Rest der Zeit mit vier Töchtern und Mann, vier Förderkindern und 3000 Quadratmetern Brennnesseln. Michaelis hat zahlreiche Preis erhalten. (Quelle: www.antonia-michaelis.de)

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Erstellt:
11. November 2022, 11:30 Uhr

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