Wenn sich der Ärger hochschaukelt
In der häuslichen Pflege kommt es häufig zu schwierigen Situationen – Viele Angehörige sind damit überfordert
Die Pflege von Pflegebedürftigen stellt Angehörige oft vor große Probleme. Vor allem der Umgang mit Aggression ist heikel. Wir zeigen, wie man mit Wut und Ärger umgehen kann.
Ingolstadt Auch wenn es Jahre her ist, so erinnert sich die Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Parr noch gut an den Anruf. „Ich habe meine Mutter mit der Bürste auf den Kopf geschlagen“, berichtete eine verzweifelte Frau. Sie hatte im Zeitdruck die Nerven verloren. Die Seniorin wollte sich partout nicht frisieren lassen, obwohl sie außer Haus musste, so dass ihre Tochter ausrastete. „So etwas kann passieren, wenn man unter Druck steht“, sagt Tammen-Parr, Leiterin der Beratungs- und Beschwerdestelle „Pflege in Not“ in Berlin. Allerdings komme es selten vor, dass jemand wegen solcher Handgreiflichkeiten anrufe. „Bei uns sind vor allem verbale Entgleisungen ein Thema. Da wird gedroht, geschrien und entwertet.“
Experten gehen davon aus, dass es in der häuslichen Pflege sehr häufig zu Gewalt kommt. Bei einer Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP), an der mehr als tausend pflegende Angehörige teilnahmen, gab fast jeder zweite an, Gewalt durch den Pflegebedürftigen erlebt zu haben. Außerdem berichteten 40 Prozent, selbst schon gegenüber dem pflegebedürftigen Angehörigen gewalttätig gehandelt zu haben. „Meist ist die Gewalt beidseitig“, sagt der Psychiater Rolf Hirsch, Vorsitzender der Krisen-Beratungsstelle Handeln statt Misshandeln – Forum Altern ohne Gewalt. Ein Ausraster provoziert aggressive Reaktionen beim Gegenüber, die zu einem neuen Übergriff führt – eine Gewaltspirale entsteht.
Allerdings gibt es unterschiedliche Definitionen von Gewalt, wie Hirsch zu bedenken gibt. Neben unmittelbarer körperlicher Gewalt zählt das ZQP auch psychische Gewalt, Vernachlässigung, finanzielle Ausbeutung, Medikamentenmissbrauch und sexuellen Missbrauch dazu. Abgesehen davon können die Ausprägungen sehr unterschiedlich sein: Ruppiges Anfassen zählt genauso als Gewalt wie schwere Misshandlungen.
„Am häufigsten kommt psychische Gewalt vor, zum Beispiel in Form von verbalen Übergriffen“, sagt Hirsch. „Wenn man den anderen erniedrigt und beschämt, handelt es sich um Gewalt.“ Hintergrund seien oft Überforderung, Zeitnot und Hilflosigkeit.
Meistens handelt es sich bei den pflegenden Angehörigen um Frauen, die mitunter extremen Belastungen ausgesetzt sind, wie der Psychologe erklärt: Zum Beispiel, weil sie Kinder versorgen, berufstätig sind und den Großteil der Hausarbeit erledigen. Tammen-Parr: „Im Schnitt werden Angehörige zehn Jahre gepflegt. Das ist eine lange Zeit, auf die niemand eingestellt ist.“
Besonders herausfordernd ist die Lage dann, wenn Pflegebedürftige an Demenz leiden. In der Familie können dann kritische Momente entstehen. Auch Alkoholabhängigkeit, Depressionen und finanzielle Schwierigkeiten tragen Hirsch zufolge dazu bei, dass sich die Situation zuspitzen kann.
Tammen-Parr erklärt: „Der eigentliche Zündstoff entsteht aber aus der gemeinsamen Familiengeschichte. Alte Verletzungen kommen nämlich wieder an die Oberfläche, wenn man so stark aufeinander angewiesen ist.“ Wenn eine Mutter, die sich wenig um ihre Tochter gekümmert hat, auf einmal von dieser gepflegt werden soll, liegen die Probleme auf der Hand. Auch in der Ehe ist Pflege oft schwierig: „Eine Beziehung, die früher auf Augenhöhe geführt wurde, kann in eine Schieflage geraten, wenn eine Abhängigkeit entsteht. Dadurch kann es zu irrsinnigen Aggressionen kommen“, betont die Sozialpädagogin. In einem Fall fühle sich ein Partner bevormundet, im nächsten vernachlässigt – das Konfliktpotenzial sei enorm. „Manchmal brauchen die Betroffenen dann therapeutische Hilfe, um den Umgang miteinander neu zu lernen.“
Hirsch ist sich sicher, dass sich hinter verschlossenen Türen viele Dramen abspielen. Da die Akteure darüber entweder kaum reflektieren oder aus Scham schweigen, dringt aber wenig nach außen. „Darüber wird nicht gesprochen.“ Experten wie er und Tammen-Parr setzen sich dafür ein, das Thema aus der Tabuzone zu holen. „Wenn wir von Übergriffen und Gewalt erfahren, bewerten wir das nicht, sondern nehmen uns Zeit, das zu besprechen. Man muss offen kommunizieren.“
Um Krisen zu entschärfen, setzt Hirsch auf Deeskalation. Dazu trägt alles bei, was den Angehörigen entlastet – etwa, den Pflegebedürftigen vorübergehend in einer Tagespflege unterzubringen, einen ambulanten Pflegedienst oder Nachbarschaftshilfe einzuspannen. Auch Selbsthilfegruppen und Organisationen wie die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft können helfen.
Das kann die Mehrgenerationen-Managerin Lisa Bauernfreund aus Ingolstadt, die seit Jahren ihren 91-jährigen Vater pflegt, bestätigen. „Es ist wichtig, sich Hilfe zu holen und sich mal einzugestehen, dass man bestimmte Dinge nicht leisten kann.“ Statt perfekt sein zu wollen, versucht sie ungewöhnliche Situationen im Pflegealltag mit Humor zu nehmen. Heute Morgen, erzählt sie, hätte ihr Vater seine Marmeladenbrötchen in der falschen Reihenfolge bestrichen. Warum eigentlich falsch, hätten sie sich dann gefragt. Wer sagt, dass man Margarine nicht obendrauf schmieren darf?„Darüber haben wir beide richtig lachen müssen.“