Wie sozial wäre eine soziale Dienstpflicht?

Alle sind sich einig: Ohne soziales Engagement funktioniert unsere Gesellschaft nicht. Aber sollte man junge Menschen verpflichten, sich für das Gemeinwesen einzusetzen? Darüber gehen auch im Rems-Murr-Kreis die Meinungen auseinander.

Beim DRK lernen die Freiwilligen auch, Berührungsängste gegenüber anderen Menschen abzubauen. Foto: NoahandJakob Medienproduktion

Beim DRK lernen die Freiwilligen auch, Berührungsängste gegenüber anderen Menschen abzubauen. Foto: NoahandJakob Medienproduktion

Von Valentin Schmid

Rems-Murr. „Warum wollen Sie über unseren Kopf und unser Leben hinweg entscheiden?“, fragt die 17-jährige Jona Dörr. Sie hat sich in einem offenen Brief gegen den Vorschlag von Bundespräsident Steinmeier gewandt, einen sozialen Pflichtdienst für junge Menschen einzuführen. Ein solcher Dienst, da ist sich die Schülerin aus Schwaikheim sicher, würde die gesellschaftliche Verantwortung für Notlagen einseitig auf eine Gruppe verlagern, „die sich nicht wehren kann“. Doch wie blicken diejenigen auf die Debatte, die tagtäglich in den betroffenen Bereichen arbeiten?

Stellen sind nicht ausreichend besetzt

„In den vergangenen Jahren ist zu beobachten, dass es immer schwieriger wird, Freiwillige zu gewinnen“, schildert Christian Siekmann vom DRK-Kreisverband Rems-Murr, der eine Dienstpflicht durchweg positiv sieht. Bis zum Aussetzen des Zivildienstes im Jahr 2011 seien beim DRK mitunter mehrere Dutzend Zivildienstleistende tätig gewesen. Heute könne das DRK nicht einmal mehr die 15 Stellen im Bereich Mobile Dienste ausreichend besetzen. Ganz konkret fehle momentan eine Person, die behinderte Menschen im Studium an der Universität begleitet. Siekmann: „Am Ende trifft es dann die Menschen mit Behinderung, die gegebenenfalls nicht mehr in vollem Maße am öffentlichen Leben teilnehmen können.“

Ein FSJ bietet prägende Begegnungen

Dass viele junge Menschen über „Mund- zu-Mund-Propaganda“ zum DRK gelangen, spreche für die Qualität der angebotenen Stellen. „Es gibt Fortbildungsangebote und weitgehend flexible Arbeitszeiten“, hebt Siekmann hervor. Außerdem entstehe unter den Freiwilligen eine besondere Gemeinschaft: „Sie werden ein Team, in dem sich die Mitglieder gegenseitig unterstützen und aushelfen.“ Von guten Erfahrungen berichten auch Thorbjörn und Sarah, die beim DRK im Bereich der Fahrdienste arbeiten: Beide wollten sich nach der Schule nicht nur ausprobieren, sondern auch eine Arbeit ausüben, die Sinn macht und anderen hilft. „Es ist schön zu sehen, wie sich Menschen öffnen können, wenn man mit ihnen Kontakt hat“, erklärt Sarah. „Viele ältere Menschen vertrauen einem die halbe Lebensgeschichte an und genießen das Gespräch, das von beiderseitigem Interesse geprägt ist.“ Thorbjörn ergänzt: „Man lernt, Verständnis zu entwickeln für Menschen mit Behinderung. Ich gehe nun offener auf diese Menschen zu.“ Ohne ein FSJ gäbe es weniger oder gar keine Begegnungen zwischen jungen Menschen und Menschen mit Handicap, fasst Christian Siekmann zusammen.

Für alle gibt es den richtigen Platz

„Es sind immer viele dieser jungen Männer hängen geblieben, die festgestellt haben, dass die Arbeit mit Menschen gut für sie ist“, meint Marco Kelch von der Paulinenpflege Winnenden, die durchschnittlich 40 Freiwillige beschäftigt, einige davon auch in Backnang. Zu Zeiten des Zivildienstes habe die Quote der Männer, die bei der Paulinenpflege bleiben oder zu ihr zurückkehren, bei bis zu zehn Prozent gelegen. Doch generell sind laut Kelch alle jungen Menschen eine „sehr große Entlastung und große Hilfe“. Auch mögliche Motivationsprobleme durch „unfreiwillige Dienstleistende“ sieht Kelch entspannt: „Wir trauen uns zu, auch Menschen die weniger motiviert sind, an den richtigen Platz zu tun.“ Im Fall einer allgemeinen Dienstpflicht geht er sowieso davon aus, dass eine staatliche Instanz die Jugendlichen „vorfiltert“. So würde nur zur Paulinenpflege kommen, wer halbwegs an der Arbeit interessiert sei.

Die Idee ist an vielen Stellen nicht zu Ende gedacht

Eine gänzlich andere Sicht der Dinge hat Michael Ott, Abteilungsleiter Freiwilliges Engagement im Diakonischen Werk Württemberg. Seine Abteilung betreut die jungen Menschen, die in den Mitgliedswerken der Diakonie, darunter auch in der Paulinenpflege, einen Freiwilligendienst ableisten. „Wir haben deshalb viel Erfahrung mit motivationalen Fragen“, erklärt Ott und kommt schnell zum Punkt: „Wir sprechen uns als Verband ausdrücklich gegen einen Pflichtdienst aus.“

Aus Sicht der Diakonie sei die Idee an vielen Stellen nicht zu Ende gedacht: „Weder Sie noch ich noch alte Menschen möchten von jemandem gepflegt werden, der das erstens nie gelernt hat und zweitens keine Lust darauf hat.“ Ein beträchtlicher Teil der jungen Leute würde daher mehr Arbeit und Kosten verursachen als sich in der Praxis als Hilfe zu erweisen. Ott warnt auch vor falschen Vergleichen mit dem Zivildienst. Schließlich hätten diesen nur diejenigen Männer absolviert, die sich aktiv gegen die Wehrpflicht entschieden und damit ein gewisses Engagement an den Tag legten. Nach dem Motto „wir schicken die in die Altenheime, den Job kann ja jeder“ wäre durch die Dienstpflicht sogar eine Abwertung in der Wahrnehmung von sozialer Arbeit zu befürchten. „Kein Mensch würde sein Auto von einem Freiwilligen reparieren lassen“, illustriert Michael Ott die Situation. Genauso sei auch im sozialen Bereich eine gründliche Ausbildung nötig. Doch dafür fehlten schlichtweg die Kapazitäten. Bei ungefähr 500000 jungen Menschen, die etwa in diesem Jahr 18 werden, wäre allein die Verwaltung des Pflichtdienstapparats kaum zu stemmen.

Nachhaltige Hilfe durch bessere Löhne und Arbeitszeiten

Außerdem „würde sofort dagegen geklagt werden“, meint der Abteilungsleiter. Nur in Notlagen wäre die Dienstpflicht mit dem Grundgesetz vereinbar — und die sei im Fall eines Personalmangels noch nicht gegeben. Im Pflegebereich könnten nur bessere Löhne und Arbeitszeiten nachhaltig helfen, ein Pflichtdienst würde die bestehenden Probleme lediglich „zukleistern“. Dass einige Mitgliedswerke der Diakonie für eine Dienstpflicht sind, führt er auf die „schiere Personalnot“ zurück.

Bestehende Formate weiterentwickeln

Lohnenswert wäre es, da sind sich alle Institutionen einig, die bestehenden Formate für Freiwilligendienste attraktiver zu machen. „Insgesamt muss ein FSJ mehr gesellschaftliche Anerkennung genießen“, meint Christian Siekmann. Viele FSJler beim Roten Kreuz zielen auf ein Medizinstudium ab. Man könne also etwa über eine bessere Anrechnung des FSJ in Sachen Wartesemester und Studienplatzbewerbung nachdenken. Michael Ott schlägt auch ein kostenloses Zimmer in der gewünschten Studentenstadt nach dem Freiwilligendienst vor.

Auch ein kostenloses Nahverkehrsticket wird von mehreren Seiten angeregt, um den Freiwilligendienst komfortabler zu machen. „Dann lassen sich bestimmt relativ viele junge Menschen auf das Abenteuer ein“, so Ott abschließend. Ansonsten gelte für ihn aber: „Wenn man junge Leute gut ausbildet und schnell in Arbeit bringt, dann nützen sie dem Gemeinwesen am allermeisten.“

FSJ-Stellen Unter www.t1p.de/fsj-rmk sind regionale FSJ-Stellen zu finden.
Kommentar
Generation Unverbindlichkeit

Von Valentin Schmid

Sie wolle sich nicht für ein ganzes Jahr auf eine Sache festlegen, antwortete Jona Dörr in einem Interview auf die Frage, ob sie selbst ein FSJ plant. Die Schülerin steht damit exemplarisch für eine Generation, die sich möglichst viele Optionen offenhalten möchte, um sich möglichst kurzfristig zu entscheiden. Generation Unverbindlichkeit sozusagen. Doch die Sorge ist unbegründet: Wer ambitionierte Karrierepläne vor Augen hat, wird sich von „einem Jahr Pause“ zwischen Abitur und Studium nicht aufhalten lassen. Und wer nicht weiß, wohin er will, kann während eines Pflichtdienstes erst recht wertvolle Orientierung finden.

Es muss ja nicht unbedingt der Gesundheitsbereich sein: Auch Kirchen, Sportvereine und Umweltverbände brauchen Unterstützung. Entscheidend ist der Einsatz für das Gemeinwesen, ohne dass der eigene Vorteil im Vordergrund steht. Das ändert den Blick auf die Welt, baut Brücken zwischen Menschen und bildet das Fundament einer solidarischen Gesellschaft.

redaktion@bkz.de

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Erstellt:
4. August 2022, 06:00 Uhr

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