Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Christian Lange wird 60

Der ehemalige Backnanger SPD-Bundestagsabgeordnete Christian Lange hat im Norden seine neue Heimat gefunden. Er arbeitet nach seinem Rückzug aus der Politik als Unternehmensberater bei Roland Berger und genießt frohgemut den Ausblick von seiner Kieler Wohnung auf die Ostsee.

Fühlt sich am neuen Wohnort Kiel pudelwohl: Christian Lange. Der einstige Abgeordnete ist froh, Abstand von der Politik zu haben. Foto: privat

Fühlt sich am neuen Wohnort Kiel pudelwohl: Christian Lange. Der einstige Abgeordnete ist froh, Abstand von der Politik zu haben. Foto: privat

Von Matthias Nothstein

Backnang/Kiel. „Ausgezeichnet“, so lautet die Antwort von Christian Lange auf die Frage, wie es ihm geht. Der einstige Backnanger Bundestagsabgeordnete, der heute seinen 60. Geburtstag feiert, blickt aus seiner Wohnung in Kiel direkt auf die Ostsee und schildert dem Anrufer: „Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch und schaue auf die raue Ostsee. Für morgen ist Sturm angesagt. Noch ist alles ruhig, die Fähre von Oslo nach Kiel ist heute noch ganz pünktlich vor meinem Fenster vorbeigezogen.“

So klingt einer, der ganz in sich ruht. Und in der Tat scheint es, als habe Lange, der von 1998 bis 2021 im Bundestag saß, genau den richtigen Zeitpunkt für den Absprung aus dem Politikkarussell gefunden. Keine Spur von Sehnsucht nach dem Plenarsaal ist aus der Unterhaltung herauszuhören. Im Gegenteil, die Kritik ist nicht zu überhören, wenn er etwa sagt: „Die Bundesregierung macht es einem auch leicht, dass man keine Sehnsucht hat.“ Solch deutliche Worte, obwohl die SPD sogar den Kanzler stellt? Der Wirtschaftsexperte zieht ungeachtet dieser Tatsache sofort vom Leder und fordert eine neue Agenda, so wie einstens die Agenda 2010 unter Gerhard Schröder, mit der damals die Arbeitslosigkeit von fünf Millionen immerhin halbiert werden konnte. Klar betont Lange, dass sich Schröder inzwischen mit seiner Russlandhaltung vollständig verrannt habe, aber dies schmälere nicht diese Verdienste. Und gerade jetzt wäre es höchste Zeit, die Wirtschaft als wichtigsten Punkt auf eine neue Agenda zu setzen: „Wir stecken in einer klassischen Rezession. Aber bei uns sind die Energiepreise dreimal so hoch wie in den USA. Da muss man sich nicht wundern, wenn sich Unternehmen fragen, ob es nicht besser wäre abzuwandern.“ Mit Änderungsvorschlägen hält er sich zurück, „ich bin ja nicht mehr in der Politik“.

Mit der Politik der Bundesregierung ist der Jubilar überhaupt nicht zufrieden

Auch mit der Migrationspolitik ist er nicht zufrieden und empfiehlt einen Blick über die Landesgrenzen. Als Nordlicht würde er sich wünschen, dass man sich zum Beispiel einmal anschaut, wie die Sozialdemokraten in Dänemark die Migration angehen. Dort, so rechnet Lange vor, konnten die rechtsradikalen Parteien auf zwei Prozent kleingehalten werden, obwohl die früher auch einmal erfolgreicher waren. Dann holt er tief Luft und sagt: „Aber ich bin ja nur noch Bürger. Ich stelle nur fest.“

Jetzt ist es aber nicht so, dass der politische Frührentner den ganzen Tag seine Beine hochlegen würde. Vielmehr arbeitet Lange seit vergangenem Jahr etwa 80 Tage im Jahr als Senior Advisor bei der Unternehmensberatung Roland Berger, einer der größten ihrer Zunft. Sein Büro ist zwar am Firmensitz in Hamburg angesiedelt, aber zumeist kann Lange von zu Hause aus arbeiten, und das, obwohl er internationale Themen beackert „Ich erledige vieles digital. Da ist ja mittlerweile sensationell viel möglich. Nur ab und zu bin ich zu Face-to-Face-Meetings in Hamburg.“

Den richtigen Zeitpunkt für sich gefunden

Diese Tätigkeit, bei der es vor allem auf die Erfahrung ankommt, ist eine neue Herausforderung und damit genau das, was sich der erfahrene Politstratege nach 23 Jahren Bundestagsangehörigkeit gewünscht hat. In manch einer Runde ist der Sozialdemokrat jetzt erstmals der Älteste, verrät der einstige parlamentarische Staatssekretär des Justizministeriums. Auch deshalb sei es exakt der richtige Zeitpunkt gewesen, in Berlin aufzuhören: „Wenn man etwas Neues machen möchte, dann muss man es rechtzeitig anpacken. Ich kann nicht Mitte 60 oder kurz vor dem 70. sagen, ich mach noch mal was anderes. Das war schon der richtige Zeitpunkt.“ Die eher theoretische Frage, ob es ihn nicht gereizt hätte, weiterzumachen, wenn er 2021 gewusst hätte, dass die SPD den nächsten Kanzler stellt, beantwortet der Jurist mit einem knappen, aber klaren „Nein“.

An den Angewohnheiten hat sich nicht viel geändert

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Der Lebensrhythmus des gebürtigen Saarländers hat sich nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag eigenen Angaben zufolge wenig bis gar nicht geändert. „Ich stehe jeden Morgen um 6.30 Uhr auf und habe bis 8.30 Uhr alle Zeitungen durch und die E-Mails der Nacht gesichtet.“ Wobei er einräumt, dass die Backnanger Kreiszeitung nicht mehr zu seiner regelmäßigen Lektüre zählt. Danach ist Zeit für die üblichen Büroarbeiten, die jeden Tag anfallen. „Wenn man nicht Vollzeit arbeitet, heißt das ja nicht, dass man nicht jeden Tag trotzdem was tut, man ist eigentlich immer im Job.“

Viele Jahre lang engagierte sich Lange bei der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, war unter anderem Vizepräsident und ist heute noch Mitglied. So wundert es nicht, dass er zum Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel eine eindeutige Position bezieht. „Das Massaker vom 7. Oktober war das größte, das seit dem Holocaust in der Neuzeit an Juden stattfand. Insofern kann ich verstehen, dass die Israelis jetzt sagen, wir müssen der Terrororganisation ein Ende setzen.“ Lange war in früheren Zeiten selbst im Gazastreifen und bezeichnet es als „sehr bedenklich, dass UN-Organisationen mit Terroristen kooperieren“. Angesichts des Leids der Palästinenser erklärt er: „Das ist kein Grund, hier in Deutschland Israelfeindlichkeit zu zeigen und dem Antisemitismus zu frönen.“ Als Zeichen der Hoffnung bezeichnet er die vielen Demonstrationen im Land gegen Rechtsextremismus und er erkundigt sich: „Gab es eigentlich in Backnang auch solche Demonstrationen?“ In Kiel hat er sich selbst an einer solchen beteiligt. „Es war wirklich beeindruckend. Da haben Leute teilgenommen, von denen hatte ich den Eindruck, die waren in ihrem ganzen Leben noch nie auf einer Demo. Man hat gemerkt, wir sind mehr als dieser rechtsradikale Rand.“

Hin und wieder gibt es einen Abstecher nach Backnang in die alte Heimat

Aufgrund der großen Entfernung ist er selbstverständlich nicht mehr so oft in Backnang. Das letzte Mal war dies Ende vergangenen Jahres der Fall, da feierte er mit seinen Klassenkameraden des Waiblinger Staufer-Gymnasiums 40 Jahre Abitur. Und bei dieser Gelegenheit gehört der Abstecher nach Backnang selbstverständlich dazu, ebenso wie ein Treffen mit seinem Amtsvorgänger Robert Antretter oder der Gang zum Grab seiner Eltern, die auf dem Stadtfriedhof begraben sind.

Seinen runden Geburtstag feiert Lange heute unter anderem in der Elbphilharmonie in Hamburg, wo er sich ein schönes Konzert anhören wird. Und ziemlich sicher wird er auch die nächste Zeit genießen in seiner Wohnung in Kiel, die einen eigenen Steg ins Meer hat. Und sich freuen am Anblick der vorbeiziehenden Schiffe.

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Erstellt:
27. Februar 2024, 11:00 Uhr

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