Verdrängung statt Reformen

Warum regiert Schwarz-Rot so, als gäbe es kein Morgen?

Zu Beginn der Haushaltswoche warnt das Institut der deutschen Wirtschaft die Bundesregierung vor „einem weiteren Aufwuchs“ bei den Sozialausgaben. Bei öffentlichen Investitionen hinkt Deutschland hinterher.

Deutschland gibt derzeit mit 41 Prozent der Gesamtausgaben mehr Geld für die soziale Sicherung aus als andere europäische Staaten – und doch reicht es für viele Bürger nicht zum Leben.

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Deutschland gibt derzeit mit 41 Prozent der Gesamtausgaben mehr Geld für die soziale Sicherung aus als andere europäische Staaten – und doch reicht es für viele Bürger nicht zum Leben.

Von Markus Brauer/dpa

„Die Koalition, die sich als ‚letzte Kugel der Demokratie‘ sieht, benimmt sich, als gäbe es kein Morgen. Und das, während die AfD wächst und die Brandmauer noch ganz woanders bröckelt.“ Diese Sätze waren am 20. November in der Wochenzeitung „Die Zeit“, die nicht gerade als konservatives Paradeblatt gilt, unter dem Titel „Platz-Patronen“ zu lesen.

Diese „letzte Kugel der Demokratie“ (der Satz stammt übrigens vom CSU-Chef Markus Söder) bricht mit dem aktuellen Bundeshaushalt alle Rekorde: Rekord-Verschuldung, Rekord-Sozialausgaben, Rekord-Verteidigungsausgaben, Rekord-Zinszahlungen.

Dysfunktionales schwarz-rotes Zweckbündnis

Ähnlich rekordverdächtig sieht es bei den Versäumnissen der schwarz-roten Koalition aus: Ob Bildung, Infrastruktur oder Investionen in die Wettbewerbsfähigkeit – Deutschlands strukturelle und industrielle Basis, und damit seine Zukunft, verfällt in Echtzeit.

All das wollen, können oder dürfen die Regierenden offenbar – bis auf wenige Ausnahmen wie Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche (CDU) – nicht wahrhaben.

Selbst wenn sie es vielleicht sogar besser wissen: Um des politischen Überlebens des CDU-CSU-SPD-Bündnisses wird so gehandelt, als ob es kein Morgen mehr gäbe. Oder im Söder-Slang gesprochen: Als ob es nur noch eine Patrone in der Revolvertrommel gäbe.

Was offenbar zählt, ist das Heute – bis zur nächsten regulären Bundestagswahl im Frühjahr 2029. Wenn dieses dysfunktionale Zweckbündnis überhaupt bis dahin standhält. Glaubt man den Meinungsumfragen traut eine Zweidrittelmehrheit der Bundesbürger Schwarz-Rot schon nach sieben Monaten im Amt nicht mehr zu, die Republik vor dem internationalen Absturz zu bewahren.

Regierende im Verdrängungsmodus

Wie kann das sein? Wie kann das Polit-Establishment die unverkennbaren Signale nicht erkennen – wollen, können, dürfen? Des Rätsels Lösung heißt: Verdrängung.

In der Psychoanalyse in der Tradition von Sigmund Freud (1856-1939) meint Verdrängung einen unbewussten Mechanismus: Das Ich (oft unter dem Einfluss des Über-Ich) schiebt inakzeptable Wünsche und Gedanken in das Unbewusste, um das Ich vor Angst zu schützen.

Die verdrängten Inhalte verschwinden aber nicht, sondern bleiben im Unbewussten aktiv und suchen nach Wegen, sich auszudrücken. „Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde“, schreibt der Begründer der Psychoanalyse.

Verdrängte Wünsche und Triebe suchen laut Freud weiterhin nach Befriedigung und manifestieren sich als Symptome oder Ersatzverhaltensweisen. Diese wiederum können sich als psychische Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen.

Realität? In der Politik greift ein Abwehrmechanismus

Verdrängung bezeichnet in der psychoanalytischen Theorie folglich einen Abwehrmechanismus, der innerseelische oder zwischenmenschliche Konflikte reguliert, indem tabuisierte oder bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ferngehalten werden. Verdrängung ist ganz ein gewöhnlicher, bei vielen Menschen auftretender Vorgang – und kein Vorrecht von Elitären.

Was wird denn von den Politikern verdrängt, werden Sie sich jetzt fragen. Die Realität. Und die kann einem in der Tat einen gehörigen Schrecken einjagen.

Kein „weiterer Aufwuchs der Sozialausgaben“

  • Deutschland gibt derzeit mit 41 Prozent der Gesamtausgaben mehr Geld für die soziale Sicherung aus als andere europäische Staaten, einschließlich der nordischen Länder. Das geht aus einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor. Knapp die Hälfte der Mittel entfällt den Angaben zufolge auf die Alterssicherung.
  • Die nordischen Länder sowie Österreich und die Schweiz geben jeweils 40 Prozent für die soziale Sicherung aus.
  • In den Benelux-Ländern sind es 38 Prozent.
  • Der EU-Durchschnitt liegt bei 39 Prozent.
  • Bei Ausgaben für das Gesundheitswesen (16 Prozent) liegt Deutschland zusammen mit den Benelux- und den nordischen Ländern an der Spitze.

Mitten im Rentenstreit und zu Beginn der Haushaltswoche rät das arbeitgebernahe Institut im Fazit der Bundespolitik, „einem weiteren Aufwuchs der staatlichen Aktivität und vor allem der Sozialausgaben entgegenzutreten“. Das gelte auch für Ausgaben im Gesundheitswesen.

Hohe Verwaltungskosten, Schlusslicht bei Bildung

Das IW hat die Ausgaben Deutschlands insgesamt und in verschiedenen Bereichen für die Jahre 2001 bis 2023 untersucht. Als westeuropäische Vergleichsregionen hat das Institut die Benelux-Länder, Österreich und die Schweiz sowie die nordischen Länder Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island herangezogen, die mit Blick auf ihre wirtschaftliche Entwicklung und kulturelle Prägung Deutschland relativ ähnlich sind.

  • Im Vergleich besonders hoch sind demnach hierzulande auch die Ausgaben für die öffentliche Verwaltung, die in Deutschland über den Untersuchungszeitraum kräftig gestiegen seien: von 7,2 auf zuletzt 11 Prozent.
  • Schlusslicht ist Deutschland dagegen im Bildungsbereich mit zuletzt 9,3 Prozent der Gesamtausgaben. Österreich und die Schweiz liegen der Studie zufolge fast 50 Prozent darüber.
  • Auch bei Personal (17 Prozent) und öffentlichen Investitionen (6,2 Prozent) hinkt Deutschland im Erfassungszeitraum hinterher.

Wer laut genug ruft, der bekommt

Der Lagebericht ist demnach eindeutig, die ökonomische Botschaft unmissverständlich. Auch die „Wirtschaftsweise“ Monika Schnitzer kritisiert die Beschlüsse der schwarz-roten Koalition zur Ankurbelung der Wirtschaft.

Eine Einigung wie jüngst im Koalitionsausschuss komme immer leichter zustande, wenn man Geld verteile, argumentiert Schnitzer. „Und das vielleicht eben auch für Gruppen, die es nicht unbedingt brauchen, aber die besonders laut danach rufen“, konstatiert die Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wie das Gremium der „Wirtschaftsweisen“ offiziell heißt. „Man muss also an der Stelle sich schon fragen, warum man für so etwas Geld ausgibt. Das wird das Wachstum nicht beschleunigen.“

Schnitzer spricht sich dafür aus, dass es am Ende für alle bestimmte Einschnitte geben müsse. „Und wenn man das gerecht verteilt, muss das auch gehen. Aber das ist natürlich die schwierigere Aufgabe.“

„Rentenpaket zurückziehen“

Schnitzer steht nicht alleine. In einem gemeinsamen Appell unter dem Titel „Rentenpaket zurückziehen“ dringen 22 namhafte Ökonomen und andere Wissenschaftler darauf, dass die Bundesregierung ihr Vorhaben stoppt. Zu den Unterzeichnern zählt auch der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums von SPD-Chef Lars Klingbeil.

Der Beiratsvorsitzende Jörg Rocholl bemängelt gemeinsam mit zwei Mitunterzeichnern – ifo-Chef Clemens Fuest und der Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, Michael Eilfort –, dass die Reformpläne gegen zentrale Prinzipien erfolgreicher Rentenpolitik verstießen.

Status quo ist besser als schlechte Reform

Vor allem die Haltelinie beim Rentenniveau und die geplante Ausweitung der Mütterrente belasteten die öffentlichen Finanzen erheblich, erklären sie. „Es wäre für das Vertrauen in die Politik fatal, wenn jetzt Entscheidungen durchgedrückt würden, die bereits in wenigen Jahren zwangsläufig drastische negative finanzielle Folgen hätten.“

Und: „Solange es an einem überzeugenden Reformkonzept sowie einem tragfähigen Ausgleich fehlt, ist es besser, den gesetzlichen Status quo wirken zu lassen.“

Erhalt der Koalition als Non plus ultra

Verdrängung funktioniert wenn auch unbewusst, so doch wider besseren Wissens. Im Modus der Verdrängung der Realität lehnt die Unionsfraktion im Bundestag – die SPD ohnehin – den von Ökonomen geforderten Stopp des Rentenpakets ab.

Ohne das Paket würde zum Beispiel die geplante Aktivrente nicht kommen, erläutert der erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Bundestagsfraktion, Steffen Bilger (CDU). Mit der Aktivrente sollen Rentner bis zu 2000 Euro im Monat steuerfrei dazuverdienen können. Auf diese Weise soll unter anderem dem Fachkräftemangel begegnet werden.

Immerhin: Bilger teilt das Verständnis der Ökonomen, dass es bei der Rente nicht so weiter gehen könne wie bisher. Bei der geplanten Renten-Kommission – in der dann auch einige der jetzt vorpreschenden Ökonomen sitzen werden – , die Vorschläge zur langfristigen Alterssicherung machen soll, sei deren Rat auch willkommen. Bei dem kurzfristigen Rentenpaket verwies der CDU-Politiker aber auf den Koalitionsvertrag, auf den sich auch die SPD berufen könne.

Machterhalt statt Zukunftssicherung

Das Kalkül hinter dieser Taktik ist allzu deutlich: Um des lieben Koalitionsfriedens willen soll die CDU-CSU-Fraktion das Rentenpaket im Bundestag durchdrücken, weil sonst die Tage von Scharz-Rot gezählt sind.

Hier geht es nicht um Zukunftssicherung, sondern um Machterhalt, nicht um die Stabilität der Rente auch für zukünftige Generationen, sondern um ein politisches Durchhalten bis zur nächsten Bundestagswahl. Was danach kommt, steht sowieso in den Sternen.

Wenn im Jahr 2029 seinen gesamten Bundeshaushalt für Soziales, Verteidigung und Zinstilgung verplant sein und kein Cent mehr für Investitionen zur Verfügung stehen könnte, gäbe es keinen finanziellen Spielraum mehr.

Nachfolger muss Merz’ teure Wechsel einlösen

„Ich gehe davon aus, dass wir uns einigen“, sagt Kanzler Merz nach dem G20-Gipfel in Johannesburg . Für die Zeit bis 2031 gebe es keinen Dissens. Für die Zeit danach müsse man einen Weg finden, die enormen Kostenbelastungen für den Haushalt und damit auch der jungen Generationen zu dämpfen.

Zu beneiden ist der/die nächste Kanzler/Kanzlerin nicht. Friedrich Merz wird das wohl kaum sein. Der CDU-Chef hat teure Wechsel ausgestellt, den erst seine Nachfolger werden einlösen müssen. Doch wer so mit Verdrängen beschäfigt wie die schwarz-rote Politiker-Elite, für den spielt die Zeit nach ihr ohnehin keine Rolle.

Bedenken der jungen Leute haben etwas „Stichhaltiges“

Das Rentenpaket mit weiteren Elementen soll zum 1. Januar 2026 in Kraft treten. Es gibt darum aber noch Streit in der Koalition. Die Junge Gruppe der Unionsfraktion lehnt es wegen hoher langfristiger Kosten ab. Ohne sie hätte die Koalition keine sichere Mehrheit bei einer Parlamentsabstimmung.

Die SPD wiederum lehnt Änderungen an dem Paket ab. Dazu gehören auch die sogenannte Haltelinie beim Renten-Sicherungsniveau, die ausgeweitete Mütterrente und die geplante Frühstartrente, wonach Kinder ab dem sechsten Lebensjahr pro Monat zehn Euro vom Staat für ein Altersvorsorgedepot bekommen sollen.

Bilger ließ offen, ob eine Einigung noch diese Woche gelingt. Die Bedenken der jungen Leute hätten auch etwas „Stichhaltiges“, räumt er ein.

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Erstellt:
24. November 2025, 15:04 Uhr
Aktualisiert:
24. November 2025, 16:08 Uhr

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