Backnang: Die Kneipe am Bahnübergang

Nachtleben in alten Zeiten (14) Die Lage direkt am Bahnübergang zwischen Backnang und Steinbach verschaffte der Kneipe mit Namen wie Onkel Tom’s Hütte und Café Fidel ein ganz besonderes Flair. Vor allem dem Biergarten, an dem die Züge in unmittelbarer Nähe vorbeirauschten.

Die Gäste sitzen im Biergarten, der Zug rauscht direkt an ihnen vorbei: Das war in Onkel Tom’s Hütte und im Café Fidel üblich. Fotos: privat

Die Gäste sitzen im Biergarten, der Zug rauscht direkt an ihnen vorbei: Das war in Onkel Tom’s Hütte und im Café Fidel üblich. Fotos: privat

Von Steffen Grün

BACKNANG. „Eines meiner liebsten Kultlokale der 90er-Jahre war Onkel Tom’s Hütte“, sagt Heike Wolf und erinnert sich, dass oft auch von der „Spinne“ die Rede gewesen ist. Das hatte offenbar zwei Gründe. Zum einen trug die Kneipe vorher wohl eine Weile diesen Namen, weil der Pächter mittendrin eine Vogelspinne in einem Terrarium platziert hatte. Zum anderen war es der Tatsache geschuldet, dass die Gaststätte ihre Besucher nahe der einstigen, 1912 eigens für die Arbeiter der Spinnerei Adolff gebauten Bahnhaltestelle empfing. „Vor allem im Sommer war das der Treffpunkt schlechthin“, berichtet die Leserin unserer Zeitung.

Das hatte sicherlich nicht zuletzt mit der speziellen Lage in Spuckweite zu den Gleisen der Murrbahn und zum Bahnübergang zwischen Backnang und Steinbach zu tun. Sobald das rote Blinklicht über dem Andreaskreuz zu leuchten anfing, das Klingeln ertönte und sich die Schranken schnell senkten, wussten vor allem diejenigen, die draußen auf den Schrannen im Biergarten hockten, was zwingend zu tun ist: die Getränke gut festhalten und die Gespräche einstellen, bis der Zug vorbeigedonnert ist. Heike Wolf hat „das Klirren der Gläser“, das bei dieser enormen Wucht und dem starken Windstoß in abgemilderter Form auch im Inneren der Kneipe zu hören war, nach wie vor im Ohr.

Das, aber längst nicht das alleine habe „zu einer gewissen Lässigkeit beigetragen, die einen ganz besonderen Charme hatte“. Die damaligen Pächter hätten eine wichtige Rolle gespielt, denn „Elke Brenner und Werner Ewy waren mit ihrer Fröhlichkeit und Herzlichkeit das Herz der Kneipe. Sie haben ihre Spinne mit jeder Menge guter Laune und positiver Energie geführt.“ Das ist auch noch zu spüren, wenn das Paar selbst von damals erzählt. „Eine erfrischende Zeit mit vielen Partys bis in die frühen Morgenstunden“ sei es gewesen. Als Beispiel nennen sie das „erste Halloweenfest in Backnang mit dem Motto: Wer erkannt wird, kommt nicht rein. Es gab die kuriosesten, fantasievollsten Verkleidungen.“ Oder die „legendären spanischen Abende“ mit der köstlichen Paella von Carmen Grabowski, die selbst später als Wirtin das Casa Carmen betrieb.

Die Parkplatzsuche bei Hochbetriebim Sommer gestaltete sich oft schwierig

Als weitere Erfolgsfaktoren nennt wiederum Heike Wolf die gute Musik und die Altersstruktur der Gäste, nämlich viele junge Leute zwischen 18 und 30 Jahren. Zu denen gehörten damals auch Jochen Lüder sowie dessen Freundinnen und Freunde, die den Beweis dafür liefern, dass in Onkel Tom’s Hütte auch in den kalten Monaten durchaus etwas los war. Ein Foto zeigt sie im November 1990, wie sie hoch konzentriert Carrom spielen, oder auch Fingerbillard genannt.

Bei Jochen Lüder handelte es sich übrigens um mehr als einen gewöhnlichen Gast. Er war neben Elke Brenner und Werner Ewy eine der treibenden Kräfte bei der Neueröffnung der Kneipe unter ihrem bis heute bekanntesten Namen gewesen. Pünktlich zum Sommer 1990 war es so weit, „vorher haben wir wochenlang renoviert“. Die Vierte im Bunde der Initiatoren, so Jochen Lüder, war Ingrid Wenninger. Sie habe sich vor allem um die Küche gekümmert und den Champignontoast zum Verkaufsschlager gemacht.

Werner Ewy war zu Beginn der 90er-Jahre als Pächter eine der treibenden Kräfte hinter der Erfolgsgeschichte von Onkel Tom’s Hütte. Inge Fritz half als Bedienung tatkräftig mit.

Werner Ewy war zu Beginn der 90er-Jahre als Pächter eine der treibenden Kräfte hinter der Erfolgsgeschichte von Onkel Tom’s Hütte. Inge Fritz half als Bedienung tatkräftig mit.

Wenn es überhaupt etwas gab, was Heike Wolf störte oder was sie und vielleicht auch andere Stammgäste zumindest „etwas nervig“ fanden, dann war es die Parkplatzsuche bei Hochbetrieb in den Sommermonaten: „Man konnte froh sein, wenn man eine Lücke am Straßenrand entdeckt hat, die nicht allzu weit entfernt war.“ Hatte man dieses Glück nicht, „musste man erst einen längeren Marsch im Stockdunkeln zurücklegen, bis man endlich am Ziel ankam“. Irgendwie trug aber auch das zum Kultstatus der Kneipe bei, die Mitte der 90er-Jahre trotzdem in einen längeren Dornröschenschlaf fiel, nachdem Werner Ewy und Elke Brenner aus privaten Gründen aufgehört hatten.

Als Norbert Kempf im September 2001 die Immobilie kaufte, „ging gerade nichts“, erinnert sich der Bildhauer und Steinmetz, der selbst auf der anderen Straßenseite im ehemaligen Bahnwärterhaus wohnt. Es war ein Glücksfall für ihn und Backnangs Gastroszene, dass Polichronis Kopilis mit einem portugiesischen Freund auf ihn zukam und die Kneipe pachten wollte. Man wurde sich schnell einig und nutzte den Winter 2001/ 2002 für Renovierungsarbeiten.

Unter anderem wurde ein neuer Boden verlegt, weil der alte laut Kempf mit zwölf Zentimetern Neigung „total schräg war“ und die Getränke aus ihren Gläsern zu laufen drohten. „Poli“, wie alle den Wirt nennen, der in Backnang mittlerweile das „Aura“ in der Stuttgarter Straße betreibt, stellte zudem im Außenbereich einen großen Grill hin und startete im Sommer 2002 dann so richtig durch.

Griechische Grillspezialitäten und vorbeisausende Züge

Es wurde eine rund zehnjährige Erfolgsgeschichte, für die Norbert Kempf vor allem eine Erklärung hat: „Das Beste war, dass Poli wahnsinnig gut improvisieren konnte und immer wieder Bands aus Backnang und der Region geholt hat.“ Dies, die griechischen Grillspezialitäten und der besondere Außenbereich mit den vorbeisausenden Zügen lockten Gäste in Scharen, bis der Baubeginn fürs neue Hallenbad für ein schleichendes Ende sorgte. Die Baustellenzufahrt führte zunächst auf städtischer Fläche noch zwischen Kneipe und Biergarten hindurch, doch Lärm und der Staub minderten den Wohlfühlfaktor bereits erheblich. Als dann auch noch der von der Bahn auf ihrer Fläche bis dahin geduldete Biergarten wegmusste, um die Zufahrt zu verbreitern, „war die Sache erledigt“, erinnert sich Norbert Kempf. „Es war eben eher eine Sommerkneipe.“

Abriss 2014 und Neubau am selben Ort, aber keinen Pächter gefunden

Als die Lokalität mit der ohnehin längst sehr schlechten Bausubstanz nach der Baderöffnung auch nicht mehr als Baubüro genutzt wurde, entschied er sich 2014 für den Abriss. Später stellte er am selben Ort einen Neubau mit Dachterrasse mit Ausblick auf das Murrtal hin und sah den Biergarten in dessen Verlängerung vor, um an der vorherigen und nun auch ihm gehörenden Stelle die Parkplätze einzuplanen. Sein Versuch, einen geeigneten Pächter zu finden, schlug bislang aber fehl „und es ist auch nicht absehbar, dass es klappt“. An den verbleibenden vier Sonntagen bis Ende August öffnet von 14 bis 16 Uhr nochmals das von Norbert Kempf initiierte Kunstcafé. Danach ist erst einmal Schluss mit der Gastronomietradition, die 1953 mit dem Bahnhofstüble begonnen hatte, und es zieht eine Werbeagentur ein. Es sei aber denkbar, dass sich das irgendwann wieder ändert, denn „das Gebäude ist für einen Restaurantbetrieb geplant“.

Infos und Fotos erwünscht Für unsere nächsten Folgen, die sich dem Casa Carmen (Deutscher Kaiser), Discotheken wie Blow up/Old Dad, Gerberstube und Living sowie dem Murrhardter Nachtleben (Orion, Old Pub, Westend, Linde) widmen, suchen wir noch Fotos und Anekdoten. Schreiben Sie uns gerne per E-Mail an redaktion@bkz.de.

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Erstellt:
6. August 2023, 06:00 Uhr

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