Schuldnerberater gibt Tipps, wie man Überschuldung vermeiden kann

Alles wird teurer (12) Der städtische Schuldnerberater Kevin Ehnes spürt aktuell einen deutlichen Anstieg der Anfragen. Hatte bereits die Coronapandemie für einen Anstieg gesorgt, ist es nun die Inflation. Unter den Ratsuchenden finden sich alle Gruppen der Gesellschaft.

Kevin Ehnes befürwortet es, wenn sich die Menschen frühzeitig melden und nicht erst, wenn Mahnbescheide vorliegen und sich Schulden aufgehäuft haben. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Kevin Ehnes befürwortet es, wenn sich die Menschen frühzeitig melden und nicht erst, wenn Mahnbescheide vorliegen und sich Schulden aufgehäuft haben. Foto: Alexander Becher

Ist die Anzahl der Anfragen das einzige Kriterium, an dem Sie merken, dass sich die Menschen zunehmend Sorgen um ihre Finanzen machen?

Nicht nur die Anzahl der Anfragen steigt, auch ihre Art ändert sich. Es fällt auf, dass sich mehr Menschen melden, die nicht akut überschuldet sind oder von Überschuldung bedroht. Aber sie machen sich Sorgen, dass sie mit Blick auf die Entwicklung des Gesamtmarktes und die gestiegenen Preise in Zukunft ihre Rechnungen vielleicht nicht mehr bezahlen können.

Das heißt, dass sie Sie gerne präventiv in Anspruch nehmen möchten?

Genau. Es ist mir sogar lieber, jemand meldet sich frühzeitig, als wenn schon Mahnbescheide vorliegen und sich Schulden aufgehäuft haben. Die Inanspruchnahme einer Schuldnerberatung hängt nicht davon ab, dass man überschuldet sein muss.

Gestiegene Preise, also die Inflation, ist das ein neuer Grund, weshalb jemand zu Ihnen in die Beratung kommt?

Auf jeden Fall. Es ist jetzt tatsächlich sehr häufig so, dass die Menschen sagen, die Inflation treibt sie um. Die Schuldnerberatung aufzusuchen, ist für viele mit einer gewissen Scham behaftet. Ich habe das Gefühl, dass es den Menschen momentan weniger schwerfällt, zur Schuldnerberatung zu gehen, weil sowieso jeder davon spricht, dass es knapp wird. Es ist salonfähiger geworden, sich finanzielle Sorgen zu machen – so schade diese Entwicklung auch ist.

Gibt es Signale, an denen man erkennen kann, dass es in der Zukunft finanziell schwierig werden könnte?

Ein recht offensichtliches Alarmsignal ist, wenn man Rechnungen für alltägliche Ausgaben wie für Strom oder die Miete nicht mehr fristgerecht, sondern erst nach mehreren Mahnungen bezahlt. Eine zweite kritische Sache ist, dauerhaft im Dispo zu sein. Die Grundidee des Dispos ist, außergewöhnliche Ausgaben abzufangen, wenn mal wirklich etwas Unerwartetes kommt. Wenn der Dispo aber jeden Monat den Haushalt deckt, ist das ein Signal, dass zwischen den Einnahmen und den Ausgaben etwas schief hängt. Weiteres Indiz für einen unausgeglichenen Haushalt ist, wenn sich selbst kleinere Anschaffungen – beispielsweise eine neue Kaffeemaschine oder eine Winterjacke – nicht ohne Raten finanzieren lassen. Das spricht immer dafür, dass wirklich gar keine Reserven vorhanden sind. Und das ist ein Risikofaktor dafür, dass man seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann.

Sind es immer Menschen, die ihre Finanzen nicht im Blick haben und Warnsignale nicht hinterfragen, die in die Schuldnerberatung kommen?

Der allgemeine Glaube ist, fehlende Finanzkompetenz und unangemessener Konsum führen zu Überschuldung. So ist es aber in der Praxis nicht. Viel häufiger sind es bestimmte Lebensereignisse, die dazu führen, dass finanzielle Probleme auftreten. Das sind Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit und Tod eines Partners. All das sind Veränderungen im Alltag, die Einfluss auf Einnahmen und Ausgaben haben.

Macht es das Arbeiten mit den Menschen leichter, wenn man nicht das Gefühl hat, jemandem gegenüberzusitzen, der kein Verständnis für sein Haushaltseinkommen hat, sondern jemandem, der sich noch nicht an eine neue Lebenssituation angepasst hat?

Das würde ich so nicht sagen. Aus so einer Veränderung kann sich das Problem ergeben, dass es schwieriger ist, Ansatzpunkte zu finden. Wenn das Einkommen aufgrund von Krankheit stark abnimmt, kann der langfristig Erkrankte dagegen verhältnismäßig wenig tun. Wohingegen bei demjenigen, der eine wirtschaftliche Haushaltsführung lernen muss, positive Entwicklungen deutlich schneller eintreten können.

Wenn jemand ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen hat, also armutsgefährdet ist, ist er automatisch auch gefährdet, sich zu überschulden?

Das ist zwar ein Risikofaktor, weil in diesen Haushalten keine Reserven vorhanden sind. Aber das Risiko lässt sich durch verschiedene Maßnahmen minimieren. Auch Haushalte, in denen ein höheres Einkommen vorhanden ist, sind vor einer Überschuldung nicht völlig geschützt. Denn höheres Einkommen geht oft einher mit höheren Ausgaben. Geringes Einkommen heißt ganz sicher nicht automatisch, dass man sich überschuldet. Man muss nur besonders wachsam sein.

Kann jemand, bei dem am Monatsende ohnehin schon nichts übrig bleibt, trotzdem vorbeugen oder vorsorgen?

Man kann durchaus dafür sorgen, dass das Risiko einer Überschuldung sinkt. Eine der wichtigsten Sachen ist, den Haushalt genau im Blick zu haben. Das ist immer die Grundlage für jede zukünftige Entscheidung. Wichtig ist auch, sich darüber zu informieren, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Da reden wir über Sozialleistungen wie Wohngeld, Kinderzuschlag und Sonstiges. Es ist wichtig zu wissen, was einem zusteht, wo man es beantragen kann und dass man die Hilfe nicht zu spät beantragt. Jeden Monat 100 Euro Wohngeld zu bekommen, kann schon dazu beitragen, dass es gar nicht erst zur Überschuldung kommt. Das können auch Haushalte tun, in denen es keinen Spielraum gibt, etwas anzusparen.

Laufen Ihre Beratungsgespräche immer ähnlich ab?

Es ist sehr individuell. Es gibt Fälle, in denen es ausreicht, ein oder zwei Fragen am Telefon zu beantworten. Häufig kommt es aber vor, dass sich bei der Anfrage zeigt, dass eine längere Begleitung notwendig und gewünscht ist. Dann gibt es durchaus einen Rahmen, wie eine Beratung abläuft. Sie beginnt immer mit der Frage: Sind existenzsichernde Maßnahmen notwendig? Bestehen Mietschulden oder Schulden beim Stromanbieter oder muss das Konto vor Zwangsvollstreckung geschützt werden? Hier den Druck aus dem Haushalt zu nehmen, ist das Wichtigste. Wenn diese Fragen geklärt sind, ist die Grundlage eine Gesamtaufstellung des Haushalts. Wenn Schulden bestehen, werden sie erfasst, systematisiert, geprüft. Auf Basis dieser Informationen wird gemeinsam eine Strategie entwickelt: Was brauche ich? Welche Schritte kann ich gehen, um aus dieser Notsituation wieder herauszukommen? Die Inanspruchnahme einer Schuldnerberatung entlässt einen nicht aus der persönlichen Verantwortung. Im Mittelpunkt steht immer die Hilfe zur Selbsthilfe.

Wenn ich es richtig heraushöre, sind Sie als Schuldnerberater eine Mischung aus Lebensbegleiter, Rechtsbeistand und Vermittler zwischen Schuldnern und Gläubigern?

Es ist von allem etwas. Für die Menschen ist es oft schambehaftet, überhaupt zu mir zu kommen, und sie sind oft in Ausnahmesituationen. Ein Schuldnerberater braucht viel Einfühlungsvermögen und muss den Menschen zunächst den Weg ebnen, um in eine gute gemeinsame Arbeit zu kommen. Der rechtliche Aspekt ist in diesem Bereich von sozialer Arbeit essenziell, weil es Punkte gibt, an denen Ratsuchende an ihre Grenzen kommen. Wo die rechtliche Prüfung kompliziert wird, erfolgt sie durch meine Stelle. Ein Schuldnerberater agiert immer als Vermittler. Es geht nicht darum, dem Schuldner jede Grauzone im Recht zu zeigen, um sich vor jeder Zahlung zu schützen. Schuldnerberater sind faire und professionelle Ansprechpartner für beide Seiten. Am Ende steht der Interessenausgleich.

Mit Erfolg?

Meine Erfahrung ist, dass in fast allen Fällen geholfen werden kann. Heutzutage muss niemand mehr mit der Belastung von Überschuldung leben. Mir persönlich gefällt, dass die Menschen oft schon aus dem Erstgespräch deutlich entlastet herausgehen – vom Kopf her. Bei Überschuldung spielt der Kopf eine große Rolle. Häufig kommen Menschen regelrecht zitternd zur Erstberatung, weil sie nicht wissen, was sie erwartet, und weil sie furchtbar belastet sind. Bei bestimmt 50 Prozent der Ratsuchenden fließen erst Tränen, auch bei gestandenen Männern. Und am Ende gehen sie aus dem Gespräch und sagen: Jetzt geht es mir schon ein bisschen besser. Bei Überschuldung oder allgemein bei finanziellen Problemen gilt: anfangen. Und schauen, dass man nicht den Kopf in den Sand steckt.

Das Gespräch führte Nicola Scharpf.

Serie Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In der Serie „Alles wird teurer“ beleuchten wir die Folgen des Preisanstiegs aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Alle erschienenen Folgen findet man hier.
Schuldnerberatung

Werdegang Kevin Ehnes hat Wirtschaftswissenschaften studiert und war früher als Projektmanager und Assistenz einer Geschäftsleitung tätig. Seit drei Jahren ist er bei der Stadt Backnang als Schuldnerberater angestellt. Ein Großteil der Menschen in seinem Beruf hat ein Studium absolviert – etwa in Bereichen der sozialen Arbeit oder in Rechtswissenschaften – und sich anschließend zu Schuldnerberatern weiterqualifiziert.

Zuständigkeit Die Schuldnerberatung der Stadt Backnang ist beim Amt für Familie, Jugend und Bildung angesiedelt. Sie folgt dem Konzept der sozialen Schuldnerberatung und ist Teil des allgemeinen sozialen Diensts. Sie ist kostenfrei und hat einen allumfassenden Blick auf die Lebenssituation der Menschen. Die Kontaktaufnahme ist per E-Mail an schuldnerberatung@backnang.de möglich. Grundsätzlich kann jeder, der in Backnang wohnt, die Schuldnerberatung in Anspruch nehmen. Voraussetzung ist, dass keine Leistungen vom Jobcenter oder vom Landratsamt – also kein ALG II und keine Grundsicherung – bezogen werden. Aufgrund von rechtichen Besonderheiten können auch Selbstständige nicht beraten werden. Ehnes betreut im Jahr zwischen 60 und 80 Haushalte, die überschuldet oder gefährdet sind, sich zu überschulden.

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Erstellt:
25. März 2023, 16:00 Uhr

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