Vom Haben, Sein und guten Leben

Alles wird teurer (13) Kommt, wer sich dem Minimalismus, also einem vergleichsweise bescheidenen, konsumkritischen Lebensstil verschrieben hat, besser mit der aktuellen Lage rund um Preissteigerungen zurecht? Die Sache ist nicht ganz so einfach zu beantworten, wie es vielleicht scheint.

Doris Bäßler liebt es, mit ihrem Fahrrad unterwegs zu sein. Sie hat kein Auto und sagt, ihr Pedelec sei ihr „Porsche und Lkw“. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Doris Bäßler liebt es, mit ihrem Fahrrad unterwegs zu sein. Sie hat kein Auto und sagt, ihr Pedelec sei ihr „Porsche und Lkw“. Foto: Stefan Bossow

Von Christine Schick

Murrhardt. „Minimalismus hört sich ja erst mal negativ an“, sagt Doris Bäßler aus Murrhardt angesichts dessen, dass schon im Wort das Maß von „verschwindend gering“ steckt und letztlich auch Verzicht mitschwingt. Nicht für sie. „Ich bin froh, dass ich viele Dinge nicht habe und versorgen muss und mehr Zeit fürs Radeln oder andere Sachen habe, die ich gern mache.“ Es gibt einiges, das sie mit dem sogenannten Minimalismus – einer Lebensform der freiwilligen Einfachheit und konsumkritischen beziehungsweisen konsumbewussten Haltung – verbindet. Hinter ihrer Einstellung steht aber eine lange, wenn nicht lebenslange Entwicklung, auf die Doris Bäßler zurückblickt. Schon als junger Mensch beobachtet sie das steigende Plastikaufkommen mit Sorge und sagt in Bezug auf den Bericht des Club of Rome von 1970: „Es ist unfassbar, wie weit es trotzdem gekommen ist.“

Keine Ausgaben für neue Kleidung

Ihr Lebensstil ist von einem starken ökologischen Bewusstsein geprägt, gleichzeitig muss sie mit einer recht überschaubaren Rente zurechtkommen, sprich ein sparsamer Konsum ist nicht von Nachteil. Wie sieht das im Alltag konkret aus? „Ich brauch kein Auto“, stellt die 67-Jährige fest. Der Kauf eines gebrauchten Pedelecs verhilft ihr zu Unabhängigkeit und Mobilität, wobei sie teils auch die Kombination mit dem VVS nutzt, wenn mal weitere Strecken über den Kreis hinaus zu bewältigen sind. „Mein Fahrrad ist mein Porsche und Lkw.“ Weiterer Posten: Kleidung. „Ich kauf so gut wie nichts neu.“ Das eine oder andere Stück findet sie in Gebrauchtwarenläden, macht auch vieles selbst, passt an, bessert aus. Wenn sie mal nicht weiterweiß, holt sie sich Unterstützung in der Schneidereiwerkstatt der Volkshochschule Murrhardt. „Das heißt auch, weniger Ressourcen zu verbrauchen.“ Über diese beiden Bereiche spart sie einiges an Ausgaben, was aber eben keine zweckentfremdete Regel ist. Manches will sie sich auch leisten, wie den Kaffee im Weltladen oder ein qualitativ gutes Stück Fleisch beim Biohof oder Landwirt nebenan zu kaufen. Auch in Bezug auf die Ernährung macht sie vieles in Eigenregie, kocht Gemüse und Obst ein.

Naturbezug und Selbstversorgung

Den Ansporn, diese Dinge selbst in die Hand zu nehmen, gepaart mit einer bodenständigen Bescheidenheit, sieht sie in ihrer Biografie verankert. Doris Bäßler ist in einer Familie aufgewachsen, die bis in die 1970er-Jahre noch Milchwirtschaft bei Auenwald betrieben hat. Ihre jüngere Schwester hat heute eine Gärtnerei mit Hofladen und führt so den Betrieb in gewisser Weise fort. „Ich vermiss nichts“, so Bäßler, auch wenn sie auf ganz besondere Dinge wie ein Wochenende mit einer Freundin in einem Kloster beispielsweise länger sparen muss. Einzig die Möglichkeiten, sich spontan im Alltag zu begegnen, fehlen ihr manchmal. „Alle sind sehr beschäftigt, für ein Treffen ist meist ein Termin nötig.“ Dorthin zu kommen, wo sie heute steht, hat trotzdem auch Zeit gebraucht, Zeit, um das Verhalten im Sinne eines umweltverträglicheren Lebens zu ändern, sagt sie. Dass dies aber mit einem knappen Budget ausgeschlossen ist, lässt sie nicht gelten. Kleine Schritte seien trotzdem möglich, wenn man sich ein Netzwerk aufbaue. Gleichzeitig sagt sie: „Wie viel oder wie wenig der Einzelne braucht, muss jeder mit sich selbst ausmachen.“

Minimalismus setzt Freiwilligkeit voraus

Mit dieser Feststellung hat Doris Bäßler einen wichtigen Punkt angesprochen. Denn in den üblichen Definitionen versteht man unter Minimalismus einen freiwillig beschrittenen Weg, wie Swetlana Fork, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologie der Universität Bayreuth, erläutert. „Nichtsdestotrotz gibt es eine Teilgruppe im Minimalismusspektrum, der diese Lebensweise hilft, drohende Armut abzuwenden oder mit geringen finanziellen Mitteln gut auszukommen“, erläutert sie.

Eine Rolle spielen können Techniken der Genügsamkeit, aber auch eine grundsätzliche Neubewertung des Materiellen. „Jemandem, der zurzeit jeden Euro zweimal umdrehen muss, nahezulegen, seine Armut mit dem wohlklingenden Minimalismuslabel aufzuwerten, wäre aber natürlich weder angebracht noch hilfreich.“ Im Zentrum der oft vielfältigen Motivationen steht für sie die Besinnung auf das subjektiv gefasste Wesentliche, seien es soziale Beziehungen, berufliche Ambitionen oder ein glückbringendes Hobby. Durch eine minimalistische Lebensweise erhofft man sich in diesem Sinne ein Freiwerden von Aufmerksamkeits-, Entscheidungs- und Zeitressourcen, vor allem durch ein Weniger an beanspruchenden Besitztümern, eine Abkehr von Konsumzwängen und/oder die Reduktion von Arbeitsstunden. Auch ökologische Belange sind von Bedeutung, Fork stellt aber fest, dass nach einer Untersuchung von Kulturanthropologin Heike Derwanz dies zumindest nicht im Vordergrund steht.

Möglicherweise spielt dabei eine Rolle, dass eine ökologisch motivierte minimalistische Lebensweise zumindest auch an Grenzen stößt. Swetlana Fork sieht diese dadurch gegeben, dass Überfluss individuell bewältigt wird, statt die zugrunde liegenden systemischen Missstände wie übermäßige Ressourcenausbeutung zu adressieren. „Generell werden Nachhaltigkeitsfragen in der minimalistischen Ratgeberliteratur zu häufig ausgeklammert, etwa die Frage, was mit den aussortierten Gegenständen geschehen soll.“ Trotzdem spreche einiges dafür, sich mit einer minimalistischen Lebensweise zu befassen. „Nicht selten werden Menschen in Überflussgesellschaften durch angesammelten Besitz und allgegenwärtige Konsumappelle übermäßig beansprucht.“ Um dem zu begegnen, könne eine minimalistische Lebensweise helfen, ein Gefühl und mehr Zeit für das Wesentliche zu erlangen. „Gleichzeitig, und das ist die andere Seite der Medaille, kann der damit verbundene Optimierungs- und Disziplinierungsanspruch auf Dauer jedoch auch belasten und erschöpfen.“

Aussortieren wird zum Zeitfresser

Diese beiden Seiten der Medaille zeigen sich auch bei einem kleinen Selbstversuch zu minimalistischen Techniken. Als Ausgangspunkt dient ein Artikel von Stefanie Jakob auf der Homepage https://utopia.de, die sich Nachhaltigkeitszielen verschrieben hat: „Minimalismus: drei gute Methoden für den Einstieg“. Mit der Korbmethode heißt es, durch die Wohnung zu tigern und in umgekehrter Manier wie beim Shopping nach Sachen zu suchen, die einem nicht mehr gefallen und unnötig sind. Nach zwei Funden – ein alter Flickenteppich und eine kaputte Plastikbox – wird die Sache zäh und zeitaufwendig, weil die größeren Vorkommen in den Regalen mit Büchern, Hörbüchern und DVDs sitzen. Da hilft auch die zweite Methode nur bedingt, die nach Marie Kondo, Aufräum- und Wegwerfberaterin, benannt ist: Die Dinge behalten, die Freude bereiten. Das Durchstöbern von ungelesenen Büchern, Hörspielen und Filmen weckt nämlich viel mehr die Lust, sich zu vertiefen. Aussortiert werden nur ein Sprachkurs in Klingonisch und eine Jazz-CD. Die magere Ausbeute liegt auch in einem noch nicht lange zurückliegenden Umzug und Aussortieren sowie darin begründet, Dinge nicht einfach wegwerfen zu wollen. Vielleicht hilft die dritte Methode „Eat the Frog first“ (Kröte schlucken), bei der es heißt, eines der allerliebsten Besitztümer auszuwählen und sich davon zu trennen, damit dies später einfacher fällt, weil es vor Augen führt, „wie wenig wir selbst lieb gewonnene Gegenstände für ein glückliches Leben brauchen“. Es ist schwer, etwas zu finden, was das Adjektiv verdient, ich entscheide mich aber für ein Buch. Fachliteratur lässt sich sogar ganz gut gebraucht verkaufen, um die Haushaltskasse aufzubessern. Bleibt die Frage, ist ein Buch noch Gegenstand oder schon (geistiges) Lebensmittel? Das läuft auf das Fazit hinaus: Minimalismus stellt immer auch die Frage nach einem guten Leben und das ist selten ganz allein finanziell begründet.

Vom Haben, Sein und guten Leben
Kritik am Minimalismus

Kritik Minimalismus als Form des freiwilligen Verzichts führt letztlich zu der Kritik, dass es sich dabei um eine Luxusposition handelt. Insofern sagt auch Swetlana Fork: „Insgesamt gehört der Großteil der Minimalistinnen und Minimalisten zur gebildeten Mittelschicht des globalen Nordens. Dieses Milieu verfügt in der Regel über finanzielles, zumindest aber kulturelles Kapital. Minimalistische Verheißungen, zum Beispiel eine Arbeitszeitreduzierung, sind zudem nicht allen zugänglich, das gilt für den sogenannten globalen Norden und erst recht für andere Teile der Welt.“ Und was die Techniken angeht: „Wichtig ist, dass Minimalismus als Praxis nicht im öffentlichkeitswirksamen Aussortieren aufgeht.“ Wichtig seien auch die Vermeidung von Konsum und die Bewahrung von Besitztümern durch Pflege und Reparaturen.

Literatur Einen Überblick zum Thema gibt der Beitrag „Die ersehnte Leichtigkeit des Seins‘“ von Swetlana Fork und Carlos Kölbl in der Zeitschrift psychosozial, 2022 (2).

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Erstellt:
1. April 2023, 06:00 Uhr

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