Auf eigenen Pfaden durch die Pandemie

Heute vor einem Jahr hat das Coronavirus den Rems-Murr-Kreis erreicht: Ein 44-Jähriger aus Rudersberg war der erste bestätigte Fall. Um glimpflich durch die Krise zu kommen, hat Landrat Richard Sigel seitdem mehrfach Sonderwege beschritten.

Nach dem ersten Coronafall reagierte der Landkreis sofort: Einen Tag später wurde in Schorndorf ein Testzentrum eröffnet. Archivfoto: B. Büttner

© Benjamin Büttner

Nach dem ersten Coronafall reagierte der Landkreis sofort: Einen Tag später wurde in Schorndorf ein Testzentrum eröffnet. Archivfoto: B. Büttner

Von Kornelius Fritz

WAIBLINGEN/BACKNANG. Eine Überraschung war es nicht mehr, als der erste Coronafall im Rems-Murr-Kreis bestätigt wurde. In den Tagen zuvor hatte es bereits Fälle in den Nachbarlandkreisen Göppingen, Heilbronn und Ludwigsburg gegeben. Am 3. März 2020 war es dann auch im Rems-Murr-Kreis so weit: Ein 44-jähriger Familienvater aus Rudersberg, der die Faschingsferien in Süditalien verbracht hatte, wurde positiv auf das neue Virus getestet, bald darauf auch seine Tochter, die die 8. Klasse des Rudersberger Schulzentrums besuchte.

Dort sorgte die Nachricht für große Aufregung: „Das war ein richtiger Schock für uns. Das Virus war bis dahin weit weg. Niemand hätte gedacht, dass es hier bei uns in Rudersberg auftaucht“, erinnert sich Schulleiter Thomas Smolarczyk. Eine Handlungsanweisung, was in einem solchen Fall zu tun ist, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. In Abstimmung mit dem Gesundheitsamt und dem Staatlichen Schulamt wurde deshalb erst einmal das gesamte Schulzentrum für eine Woche geschlossen.

„Damals dachten wir noch, das sei ein Einzelfall, den man schnell in den Griff bekommt“, erzählt der Rektor. Eine Fehleinschätzung, wie sich in den folgenden Wochen zeigen sollte. Anfangs berichteten die Zeitungen noch über jeden einzelnen Fall – der erste in Backnang wurde am 6. März gemeldet –, doch schon bald erfasste die Pandemie den kompletten Landkreis. Bis Mitte März waren bereits 50 Personen infiziert, am Ende des Monats waren es mehr als 500.

Einen Krisenplan, den man nur aus der Schublade holen muss, gab es für ein solches Szenario nicht – auch nicht im Waiblinger Landratsamt. Allerdings war Landrat Richard Sigel schon früher mit dem Thema konfrontiert als andere: Seine Schwester lebt mit ihrer Familie in China, von wo aus sich das Virus in die Welt verbreitete. „Dadurch war ich schon etwas sensibilisiert“, erzählt Sigel. Und ihm war klar, dass es bei der Bekämpfung einer solchen Pandemie vor allem auf eine Sache ankommt: Tempo.

„Wir haben deshalb bereits Masken beschafft, als andere noch darüber philosophiert haben, ob das überhaupt Sinn macht.“ Und bereits einen Tag nach dem ersten bestätigten Fall öffnete am Klinikum in Schorndorf ein zentrales Coronatestzentrum. „Damit wollten wir die Hausärzte entlasten und verhindern, dass jeder, der Symptome hat, in die Notaufnahme der Krankenhäuser stürmt“, erinnert sich Torsten Ade, Chefarzt der Interdisziplinären Notaufnahme am Klinikum in Winnenden.

Behörden vor Ort übernehmen Nachverfolgung der Kontakte.

Die Krankenhäuser standen in der ersten Phase der Pandemie vor ganz neuen Herausforderungen: Schutzkleidung war ebenso knapp wie Desinfektionsmittel. Letzteres war damals so begehrt, dass es sogar von den Krankenhaustoiletten gestohlen wurde. Dank vorausschauender Planung habe es in Winnenden und Schorndorf aber zum Glück keinen kritischen Engpass gegeben, berichtet Ade: „Wir mussten niemals Müllsäcke als Schutzkleidung verwenden.“ Das Desinfektionsmittel stellte die klinikeigene Apotheke zeitweise selbst her. In Folge des ersten Lockdowns gingen die Fallzahlen ab Mai dann spürbar zurück, doch für Landrat Sigel war das kein Anlass, sich zurückzulehnen: „Es war mir wichtig, verlässliche Strukturen zu schaffen, auf denen man auch über einen längeren Zeitraum aufbauen kann.“

Deshalb suchte er zum Beispiel den Kontakt zu den Bürgermeistern und beschritt einen Sonderweg bei der Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten: Im Rems-Murr-Kreis übernimmt diese Aufgabe nicht das Gesundheitsamt, sondern die Städte und Gemeinden vor Ort. Das habe nicht nur den Vorteil, dass so schneller Kapazitäten auf- und auch wieder abgebaut werden können, sondern man profitiere auch von der Ortskenntnis der lokalen Behörden: „Wenn die eine Adresse sehen, wissen sie sofort: Ah, da ist ja eine Flüchtlingsunterkunft oder ein Altenheim.“ Besonders in der Hochphase der zweiten Welle im Dezember habe sich dieses dezentrale Konzept bewährt, sagt Sigel. „Ich war nie in der Not, nach der Bundeswehr zu rufen, und konnte immer sagen: Wir können das, was auf uns zukommt, gut beherrschen.“

Das gilt auch für die Kliniken: Seit Beginn der Pandemie wurde die Zahl der Beatmungsplätze an den Standorten Winnenden und Schorndorf fast verdreifacht auf mittlerweile 92. Für den Notfall wurde zeitweise auch eine Bettenreserve im Hotel Sonnenhof in Kleinaspach bereitgehalten, die dann allerdings nicht benötigt wurde. In Winnenden wurde außerdem in nur drei Monaten eine abgetrennte Infektionsstation gebaut, die Anfang Februar in Betrieb gegangen ist.

Bereits im vergangenen November richtete der Landkreis in Winnenden das landesweit erste kommunale Schnelltestzentrum ein, das vor allem für Reihentestungen von Schulklassen und Kindertagesstätten gedacht war. Dass der Rems-Murr-Kreis bei der Pandemiebekämpfung oft eigene Wege gegangen ist, begründet Landrat Sigel mit dem engen Austausch mit den Praktikern vor Ort: „Ich habe das Feedback von der Basis mitgenommen und versucht, bei uns praktikable Lösungen zu finden.“ Den gleichen Pragmatismus hätte sich der Landrat manchmal auch bei den Verantwortlichen in Bund und Land gewünscht: „Das bemängle ich bis heute, dass politische Entscheidungen getroffen werden, ohne dass man die Praktiker, die es umsetzen müssen, stärker einbezieht.“

Noch ist die Pandemie nicht vorbei. „Das Thema wird uns noch länger beschäftigen“, ist sich Chefarzt Torsten Ade sicher. Der einzige Weg aus der Krise sei die Impfung. Das sieht auch Richard Sigel so und geht auch hier wieder einen Sonderweg: Damit die älteren Menschen im Landkreis schneller die schützenden Spritzen erhalten, hat er einen Impftruck angemietet, der auch in den ländlichen Gemeinden des Kreises Station macht (siehe Seite 13). Denn auch wenn es berechtigte Hoffnungen auf ein Ende der Krise gibt, dürfe man sich nicht zu früh freuen, warnt der Landrat, der früher aktiver Langläufer war: „Manchmal hat man den Sieg schon in der Tasche und fällt dann 50 Meter vor dem Ziel noch über die eigenen Skistöcke und wird dann doch nur Zweiter oder Dritter. Ich hoffe, das passiert uns jetzt nicht.“

Kommentar
Auf die Praktiker hören

Von Kornelius Fritz

Seit das Coronavirus vor genau einem Jahr den Landkreis erreicht hat, haben sich an Rems und Murr mehr als 12800 Menschen infiziert, 869 wurden in Winnenden und Schorndorf stationär behandelt, 302 Personen sind gestorben.

Das sind traurige Zahlen, trotzdem ist der Rems-Murr-Kreis vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Selbst als der Inzidenzwert im Dezember über 200 kletterte, war die Situation hier nie außer Kontrolle. Die Nachverfolgung der Kontakte war dank dezentraler Organisation weiterhin möglich, und in den Rems-Murr-Kliniken bekam jeder Covid-Patient zu jeder Zeit die bestmögliche Behandlung. Das ist auch ein Verdienst von Landrat Richard Sigel, der sich in der Krise als Mann der Tat bewiesen hat. Sigel erkannte schnell, dass es in der Pandemie nichts bringt, auf die Anweisungen übergeordneter Stellen zu warten. Wo er Handlungsbedarf sah, hat er gehandelt. Und er lag mit seinen Entscheidungen meistens richtig, weil er sie nicht alleine an seinem Schreibtisch, sondern in enger Abstimmung mit den Ärzten, Kliniken und Hilfsorganisationen vor Ort getroffen hat.

Vielleicht sollten auch die Politiker in Bund und Land öfter auf die Praktiker an der Basis hören. Manche unverständliche Entscheidung der vergangenen Monate wäre uns dann wohl erspart geblieben.

k.fritz@bkz.de

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Erstellt:
3. März 2021, 06:00 Uhr

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