„Der Lockdown-Effekt könnte verpuffen“

Das Interview: Noch ist die Lage am Klinikum in Winnenden beherrschbar, aber die neuen Coronamutationen machen Chefarzt Torsten Ade Sorgen. Mit einem positiven Effekt durch die Impfungen rechnet er erst in drei bis vier Monaten.

Die emotionale Belastung für Ärzte und Pflegepersonal sei sehr hoch, berichtet Torsten Ade. Der Chefarzt rechnet damit, dass das auch noch mehrere Monate so bleiben wird. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Die emotionale Belastung für Ärzte und Pflegepersonal sei sehr hoch, berichtet Torsten Ade. Der Chefarzt rechnet damit, dass das auch noch mehrere Monate so bleiben wird. Foto: A. Becher

Von Kornelius Fritz

Herr Dr. Ade, sind Sie schon gegen Corona geimpft?

Ja, ich habe meine erste Impfung bereits erhalten.

Ärzte und Pflegekräfte gehören zu der Gruppe, die sich bereits impfen lassen kann. Wie man hört, wollen aber gar nicht alle. Wie ist die Impfbereitschaft beim Pflegepersonal an den Rems-Murr-Kliniken?

Wir haben die Impfwilligkeit in einer ersten Runde abgefragt. Da haben sich etwa 35 bis 40 Prozent zurückgemeldet, die sich auf jeden Fall impfen lassen wollen. Wir haben aber nicht explizit nachgefragt, wer sich nicht impfen lassen möchte.

Das klingt nicht besonders viel. Woher kommt diese zögerliche Haltung? Wer die Folgen der Krankheit tagtäglich bei der Arbeit erlebt, müsste doch eigentlich größtes Interesse daran haben, so schnell wie möglich geimpft zu werden.

Das ist keine zögerliche Haltung. Sie müssen ja auch sehen, dass der Zugang zum Impfstoff im Moment noch ausgesprochen kompliziert ist, auch für die Mitarbeiter eines Krankenhauses. Ich persönlich habe anderthalb Stunden an der Telefonhotline gebraucht, um einen Termin zu bekommen, und die Anmeldung über den elektronischen Weg erfordert mindestens vier E-Mails und eine SMS. Solange wir den Mitarbeitern kein klares Angebot machen können, zum Beispiel, dass wir sie hier bei uns in der Klinik impfen, können Sie nicht erwarten, dass sich alle in der ersten Sekunde melden.

Grundsätzlich wären aber alle zur Impfung bereit?

Selbstverständlich gibt es auch Mitarbeiter, die skeptisch sind, und es steht auch jedem zu, seine persönliche Risikoabwägung zu machen. Wenn wir am Ende eine Impfquote von 60 oder 70 Prozent haben, sehe ich darin auch kein Problem. Es gibt sicherlich auch Mitarbeiter, die gute Gründe haben, sich nicht impfen zu lassen, etwa weil sie schwanger sind oder weil sie bereits Covid-19 hatten.

Bayerns Ministerpräsident Söder hat eine Impfpflicht für Pflegepersonal ins Gespräch gebracht. Was halten Sie von dieser Idee?

Sie kommt zum falschen Zeitpunkt. Wir können erst dann über eine Impfpflicht sprechen, wenn wir allen sagen können: „Ihr könnt geimpft werden, wenn ihr wollt.“ Jetzt sprechen wir über eine Pflicht, etwas zu tun, was gar nicht machbar ist – das ist verfrüht. Eine Impfpflicht wäre in meinen Augen nur dann sinnvoll, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe, die Pandemie zu stoppen, und wenn bereits alle, die eine Impfung haben möchten, das Angebot hatten, sie wahrzunehmen.

Obwohl seit Mitte Dezember ein harter Lockdown gilt, sind die Infektionszahlen im Rems-Murr-Kreis weiterhin hoch. Die Zahl der Todesfälle hat sich seit Anfang Dezember verdoppelt. Wie ist zurzeit die Situation am Klinikum?

Die Zahlen sind so, dass wir damit umgehen können. Wir haben keine massive Steigerung der Fälle mehr, aber wir sehen auch noch keinen deutlichen Rückgang. Wir hoffen natürlich, dass wir auf dem Gipfel der Scheitelwelle sind, aber wir können es eben noch nicht wissen. Diese Unsicherheit wird auch sicherlich noch ein, zwei Wochen anhalten.

Einige Intensivstationen in Deutschland sind bereits an ihrer Kapazitätsgrenze. Ist das bald auch in Winnenden zu befürchten?

Das ist schwer zu beantworten. Wir schielen immer auf die Zahl der wegen Covid beatmeten Patienten. Was wir dabei völlig ausblenden, ist, dass es auch noch viele andere Patienten gibt, die eine Beatmung brauchen. Angesichts der aktuellen Wetterlage gab es zuletzt viele Unfälle, es gibt nach wie vor Herzinfarkte und Schlaganfälle. Das sind auch alles Menschen, die teilweise intensivmedizinische Kapazitäten benötigen. In Summe sind die Intensivbetten zwar ausreichend, aber nicht üppig. Wenn wir jetzt noch 20 oder 30 Prozent Covid-Patienten mehr beatmen müssten, würde das im normalen Betrieb nicht mehr funktionieren. Dann müssten wir auf extra Bereiche und zusätzliches Personal zurückgreifen.

Wie schätzen Sie die Arbeitsbelastung für das Klinikpersonal zurzeit ein?

Wenn Sie mit Arbeitsbelastung auch die emotionale Belastung meinen, ist sie sehr hoch, speziell in den Bereichen, in denen wir Coronapatienten behandeln. Zum einen wegen der Sorge, sich selbst zu infizieren, zum anderen, weil die Patienten schwer krank sind und – man darf das nicht beschönigen – auch ein erheblicher Anteil verstirbt. Hinzu kommt, dass viele Patienten sehr lange Verläufe haben: Ein Monat auf der Intensivstation ist bei Covid-Patienten eher der Regelfall.

Müssen die Mitarbeiter auf den Intensivstationen Sonderschichten leisten?

Nein, wir arbeiten weiter mit den normalen Schichtplänen, haben die Stationen aber mit zusätzlichem Personal verstärkt. Das war von vornherein unser Konzept, und das hat sich auch sehr bewährt. Die neuen Mitarbeiter sind inzwischen auch gut eingearbeitet. Klar ist aber auch: Je länger die Krise andauert, umso schwerer ist es, damit umzugehen, und umso schwerer ist es, jeden Tag neue Motivation zu finden.

Gibt’s denn Unterschiede zur ersten Welle im Frühjahr?

Es sind jetzt mehr Patienten, die wir behandeln müssen, und es streckt sich über einen längeren Zeitraum. Es ist eine extrem ungewöhnliche Situation, wenn wir zehn oder 15 schwerstkranke Patienten haben, die alle das gleiche Krankheitsbild haben, das sich über Wochen hinzieht. Die positiven Änderungen sind, dass wir mit dem Krankheitsbild inzwischen besser umgehen können und auch bei den Patienten auf den Intensivstationen mehr Erfolge erzielen.

Inzwischen sind in Deutschland Coronamutationen aus Großbritannien und Südafrika angekommen, die deutlich ansteckender sein sollen. Macht Ihnen das große Sorgen?

Natürlich macht es mir Sorgen. Ich hatte ja gesagt: Wir kommen mit der jetzigen Situation gut zurecht, 20 Prozent mehr wären aber sicherlich ein Problem. Insofern macht es mir Sorgen, sollten sich die Zahlen bei uns genauso entwickeln wie in Großbritannien oder in Irland. Noch sehe ich diesen Effekt nicht, aber in Anbetracht des sich steigernden Risikos durch Virusmutanten ist sicherlich nicht der Zeitpunkt für Lockerungsdiskussionen.

Das heißt, wir brauchen noch einen monatelangen Lockdown?

Ich würde mich jedenfalls nicht verwehren gegen die Aussagen der Bundeskanzlerin, dass es noch länger gehen könnte, möglicherweise bis Ostern. Denn es könnte sein, dass durch die erhöhte Ansteckung der britischen Variante ein Teil unseres Lockdown-Effekts verpufft, und dann stehen wir wieder da, wo wir Anfang Dezember waren.

Der Impfstart ist schleppend angelaufen, weil noch viel zu wenig Impfstoff verfügbar ist. Wie lange wird es dauern, bis sich die Impfungen auch spürbar auf Infektions- und Todeszahlen auswirken werden?

Ich denke, sie werden sich frühestens im April oder im Mai deutlich zeigen. In den Krankenhäusern wird die Belastung sogar noch etwas länger hoch sein. Wenn die sehr alten Menschen geimpft sind, fällt zwar eine Gruppe weg. Aber die 60- bis 70-Jährigen stellen einen nicht unerheblichen Anteil auf den Intensivstationen, und Patienten aus dieser Altersgruppe müssen oft sogar noch länger behandelt werden.

Wann, glauben Sie, wird das öffentliche Leben wieder so sein können, wie es 2019 war? Also inklusive Festen, Großveranstaltungen, Reisen und allem, was dazugehört.

Da würde ich mal genauso wolkig wie die Bundespolitiker antworten: im Sommer. Und wir wissen ja, dass der Sommer von Juni bis Anfang Oktober dauern kann. Aber ich habe schon die Hoffnung, dass wir eine graduelle Verbesserung spätestens nach Ostern sehen werden. Es wird eine Normalisierung geben, aber sie wird schrittweise kommen.

Torsten Ade

Torsten Ade ist Chefarzt der Interdisziplinären Notaufnahme am Klinikum in Winnenden sowie Leiter der Krankenhaushygiene und standortübergreifender Koordinator der Impfstrategie für die Rems-Murr-Kliniken. Seit 2016 ist er zudem Kreisverbandsarzt des Deutschen Roten Kreuzes im Rems-Murr- Kreis.

Nach Medizinstudium und Promotion an der Eberhardt-Karls-Universität Tübingen war der gebürtige Esslinger zunächst an den Städtischen Kliniken Esslingen tätig. Nach seiner Facharztanerkennung für Innere Medizin, Fachbereich Kardiologie, wurde er dort Oberarzt in der Kardiologie. Anschließend wechselte Ade in die zentrale Notaufnahme, wo er bis zu seinem Wechsel nach Winnenden im Jahr 2016 als leitender Arzt tätig war.

Der 48-Jährige besitzt die Qualifikation „Leitender Notarzt“ und führt die Zusatzbezeichnungen „Notfallmedizin“, „Intensivmedizin“ und „Ärztliches Qualitätsmanagement“. Darüber hinaus absolvierte Ade berufsbegleitend zwei Masterstudiengänge: „Management von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen“ und „Medizinrecht“.

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Erstellt:
18. Januar 2021, 06:00 Uhr

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