Der nächste Schritt – dank Corona

Viele Menschen mussten sich in den vergangenen beiden Jahren auch im Rems-Murr-Kreis wegen der Pandemie beruflich neu orientieren. Während das manch einer wegen Arbeitslosigkeit zwangsläufig machen musste, haben andere schon immer mit einer Veränderung geliebäugelt.

Michele Curti hat den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt.  Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Michele Curti hat den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Foto: A. Becher

Von Matthias Nothstein

Rems-Murr. Im Zuge von Corona mussten sich etliche Menschen beruflich umorientieren, da die Pandemie das Arbeiten im bisherigen Beruf aushebelte. So waren zum Beispiel Friseurgeschäfte, Fitnessstudios oder Gaststätten lange Zeit geschlossen, die Beschäftigten ohne Arbeit. In einigen Fällen konnten die Arbeitsverhältnisse über Kurzarbeit, Urlaub oder Überstundenabbau über die quälend lange Zeit der Lockdowns gerettet werden. Es gab aber auch Menschen, die die Pandemie zum Anlass genommen haben, sich beruflich neu auszurichten. Nicht alle gezwungenermaßen. Manch einer hat schon immer mit einer Veränderung geliebäugelt.

So etwa Corinna Walz-Bollinger. Die 48-Jährige arbeitete bis Anfang 2021 mit Begeisterung als kaufmännische Angestellte bei d&b audiotechnik in Backnang. Die Firma bezeichnet sie heute noch als „ziemlich cooler Laden“, die Arbeit machte ihr Spaß. Die Tatsache, dass sie berufsbegleitend die Ausbildung zum Livecoach und zur Heilpraktikerin für Psychotherapie machte und als ausgebildete Yoga- und Meditationslehrerin zusätzlich noch Yoga unterrichtete, hatte nichts mit Unzufriedenheit im Job zu tun, sondern spiegelt vielmehr ihr großes Interesse an den Menschen wider, schließlich wollte sie nach ihrem Abitur in Backnang eigentlich Psychologie studieren.

Corinna Walz-Bollinger sieht voll Zuversicht in die Zukunft. Foto: www.janine-kyofsky.de

© Janine Kyofsky

Corinna Walz-Bollinger sieht voll Zuversicht in die Zukunft. Foto: www.janine-kyofsky.de

Als die dreifache Mutter dann Ende 2020 nach vier Jahren im Angestelltenverhältnis die betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen bekam, nutzte Walz-Bollinger dies als Initialzündung, jetzt den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Heute ist sie der coronabedingten Kündigung fast ein wenig dankbar: „Obwohl eine eigene Praxis schon immer mein Herzenswunsch war, hat die Arbeitslosigkeit meine Selbstständigkeit beschleunigt. Ich weiß nicht, ob ich es ohne diese Erfahrung so schnell gemacht hätte.“

Inzwischen laufen die Vorbereitungen für die Eröffnung der eigenen Praxis in Allmersbach im Tal auf Hochtouren. Diese Woche geht die eigene Homepage online, dann freut sich Walz-Bollinger auf den Neuanfang mit voller Hingabe.

Den Sprung in die Selbstständigkeit hat auch Michele Curti gewagt. Der 40-Jährige wohnt seit zehn Jahren mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Weissach im Tal und fühlt sich hier „in der schönen Gemeinde“ sehr wohl. Seit vielen Jahren schon arbeitet der gebürtige Hagener in der Gastronomie. Er war schon Pizzabäcker in Winnenden, wechselte dann nach Waiblingen und schaffte zuletzt als Servicekraft in Fellbach. Als er nun aufgrund der Coronapandemie seine Arbeit verlor, erinnerte er sich nur zu gut, dass er schon bei seinem Umzug nach Unterweissach das Potenzial dieses Ortes für eine Pizzeria erkannt hatte. Und als sich nun ergab, dass in Unterweissach ein Lokal zu vermieten war, griff Curti ohne zu zögern zu, am 26. Februar dieses Jahres eröffnete er sein Restaurant „Pizza&Pasta Da Michele“. Die Räume wurden vollständig renoviert. „Wir haben das bisherige Lokal von Kopf bis Fuß erneuert, haben neue Böden verlegt und zum Beispiel die Küche mit dem Backbereich nach vorne verlegt, sodass die Besucher dem Pizzabäcker bei der Arbeit zusehen können.“ Für den Umbau hat der Familienvater seine gesamte Existenz aufs Spiel gesetzt. Die Entscheidung war nicht einfach. Immer wieder fragte sich der gelernte Hotelfachmann: „Soll ich es wagen?“ Auch Curti hat das Unternehmertum im Blut. Er sagt: „Ich hätte die Selbstständigkeit wohl auch so irgendwann gewagt. Aber Corona hat mir den Schritt nun erleichtert.“

Sich umorientieren und beruflich neue Pfade gehen möchte auch Philip Paul. Er geht jedoch den umgekehrten Weg und lässt seine bisherige Selbstständigkeit hinter sich. Bislang war der 47-Jährige Chef eines Friseurgeschäfts, das er von seinen Eltern übernommen hatte, ohne selbst Haare schneiden zu können. Als der Schwaikheimer Betrieb nun während Corona 60 Prozent Umsatzeinbrüche verkraften musste und die Zahl seiner Mitarbeiter von zwölf auf vier Vollzeitbeschäftigte reduzierte, war er als Geschäftsführer, der nichts Produktives zum Umsatz beitrug, nicht mehr haltbar. Um die Existenz des elterlichen Betriebs zu sichern, stieg er nun nach 22 Jahren aus dem Geschäft aus und überließ die Leitung seinem bisherigen Geschäftspartner. Dieser ist Friseurmeister und seit Jahren ebenfalls Geschäftsführer des Betriebs. Paul: „Für mich war klar, es ist für den Fortbestand des Geschäfts besser, wenn ich aus der Geschäftsführung rausgehe.“

Und so schreibt Paul nach 22 Jahren Geschäftsführertätigkeit nun wieder Bewerbungen, um aus der Arbeitslosigkeit rauszukommen. Oberste Priorität bei der Jobsuche liegt auf der Branche Autoverkauf. Schließlich hat er vor bald 30 Jahren in diesem Metier eine Ausbildung als Groß- und Außenhandelskaufmann in einem Autohaus gemacht und war danach für einige Jahre im Verkauf. „Da möchte ich wieder hin, trotz der jahrelangen Unterbrechung.“

Vom Zirkusdirektor zum Lkw-Fahrer: Für Manuel Schickler ist die Umstellung eine gewaltige. Foto: privat

Vom Zirkusdirektor zum Lkw-Fahrer: Für Manuel Schickler ist die Umstellung eine gewaltige. Foto: privat

Im Gegensatz zu all jenen Branchen, in denen der Betrieb trotz Corona noch irgendwie weiterging, bedeutete der Lockdown bei den Zirkusgeschäften völligen Stillstand. Davon betroffen war Manuel Schickler, der Direktor des Zirkus Nock, der derzeit in Rommelshausen auf einem angemieteten Grundstück logiert. Dem 43-Jährigen liegt das Zirkusleben im Blut, nicht nur sein Großvater war schon mit dem Familienzirkus Renz auf Achse. Schickler hofft, dass sein Betrieb irgendwann wieder die Menschen begeistern kann. Zumal auch seine Frau aus einer bekannten Zirkusfamilie stammt und seine Kinder auch vom Zirkusvirus infiziert sind.

Doch das ist derzeit Vergangenheit. Aktuell arbeitet Schickler daran, den Lastwagenführerschein zu erwerben, keine einfache Angelegenheit für jemand, der die Schule nach der 5. Klasse verlassen hat und immer nur auf Achse war. Meistens im 7,5-Tonner, den er mit dem früheren 3er-Führerschein fahren durfte. Weil er immer mit viel Spaß gefahren ist, regte der Berater des Jobcenters an, er möge doch künftig als Lkw-Fahrer seine Brötchen verdienen. Schließlich war auch dem Berater vom Arbeitsamt klar, „man kann einen vom Zirkus nicht in einen Bürojob stecken“. Das will auch Schickler nicht. Er ist zwar ein Allroundtalent und präsentierte sich seinem Publikum schon als Trapezkünstler, Feuerschlucker und Jongleur. Und er ist auch ein Organisationstalent, denn in einem kleinen Zirkus erledigt eine Handvoll Leute alle Arbeiten, die anfallen. Aber viele Berufe kommen für ihn nicht infrage. Dann am ehesten noch Lkw-Fahrer. Unterwegs sein, das liegt ihm schließlich im Blut.

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Erstellt:
16. April 2022, 06:00 Uhr

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