Die „Alten“ – ein Risiko für die Gesellschaft?

Ein Gastbeitrag des früheren SPD-Bundestagsabgeordneten und Bundesvorsitzenden der Lebenshilfe Robert Antretter

Sein ganzes Leben schon beschäftigt sich Robert Antretter mit gesellschaftlichen und ethischen Fragen. In einem Beitrag für den christlichen Sender Radio Horeb macht sich der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Gedanken über die Coronapandemie und fragt sich, warum in der Berichterstattung oft das hohe Alter der Verstorbenen betont wird. Ist der Tod eines älteren Menschen etwa weniger schlimm? Wir dokumentieren die Ansprache des 81-jährigen Backnangers in leicht gekürzter Form.

Als gläubiger Christ ist Robert Antretter davon überzeugt, dass jedes menschliche Leben denselben Wert hat. Archivfoto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Becher

Als gläubiger Christ ist Robert Antretter davon überzeugt, dass jedes menschliche Leben denselben Wert hat. Archivfoto: A. Becher

Von Robert Antretter

Ich gehöre einer „Risikogruppe“ an! Dies wurde mir kürzlich schlagartig bewusst, als ich durch meine Heimatstadt Backnang ging, um Briefe aufzugeben. Mein Weg zum nächsten Briefkasten führt mich durch die sonst stark belebte Einkaufsstraße. Seit einigen Tagen ist es dort nahezu menschenleer. Bis vor Kurzem ergab sich hier und da eine kurze freundliche Unterhaltung. Man erkundigte sich gegenseitig nach dem Wohlbefinden, tauschte sich kurz über die neusten Ereignisse in der Stadt oder des Weltgeschehens aus. Sagte zum Abschied „Ade“! Wie es im Schwäbischen meist üblich ist. „Ade“, ein kurzer Zuspruch der ohnehin mit Wörtern sparsamen Schwaben. Ein Segenswunsch im engeren Sinn: „A deo“ – „Geh’ mit Gottes Segen!“ – Bis zum nächsten Wiedersehen. Seit Kurzem verlaufen diese einst alltäglichen Begegnungen anders: Man grüßt sich freundlich, um dann in weitem Bogen voreinander auszuweichen. Das sind die neuen Benimmformen.

Die medizinische Prognose wird zum Maßstab

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Gerade jetzt – in Zeiten der gefährlichen Coronapandemie – sind sie wichtig und richtig. Sie sind unerlässlich, um zu verhindern, dass sich das Virus rasant ausbreitet. Ein exponentieller Anstieg an Infektionen würde nicht nur zu einem Kollaps unseres Gesundheitssystems führen. Er würde einen Totalschaden für unsere Gesellschaft bedeuten – verbunden mit einem Einbruch der Volkswirtschaft, der bedeutend größer ist als bei der letzten Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008. Doch weitaus schwerwiegender wäre das mit der Ausbreitung von Covid-19 verbundene individuelle menschliche Leid. Sicherlich verfolgen Sie, wie ich auch, die Nachrichten und Bilder, die uns aus Norditalien erreichen – die Bilder aus Bergamo, dem Epizentrum der Pandemie. Unzählige verzweifelte, erschöpfte Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, die kaum mehr die Möglichkeit haben, sich um schwerst Erkrankte zu kümmern; medizinisches Personal, das aufgrund fehlender medizinischer Ausrüstung und Apparate schwerwiegende Entscheidungen treffen muss – ja, manchmal auch über Leben und Tod.

Weil die Kapazitäten nicht ausreichen, sehen sich Ärzte und die Ethikkommissionen der Krankenhäuser dort zur sogenannten „Triage“ gezwungen. Sie sind gezwungen, Menschen auszusortieren. Entscheidend ist die medizinische Prognose über die Überlebenschance des einzelnen Patienten. Diese Prognose wird zum Maßstab. Je geringer die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten, desto unwahrscheinlicher ist für ihn ein Platz auf der Intensivstation. Ein aus medizinischer Sicht Erfolg versprechender Fall erhält stattdessen den Vorzug.

Zunehmendes Alter und bestehende Vorerkrankungen gehören zu den Faktoren, die einen leichten Verlauf der Krankheit unwahrscheinlicher machen. Die Chancen, dass intensivmedizinische Hilfen nicht erfolgreich sind, steigen also mit diesen Faktoren. Ich bin den Verantwortungsträgern in Bund und Land außerordentlich dankbar, dass sie derzeit alle Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass das Virus sich in einer exponentiellen Kurve verbreitet, dass unseren Kliniken unweigerlich der absolute Kollaps drohen würde. Ich bin dankbar, dass sich nun alle Bundesländer dazu durchgerungen haben, das öffentliche Leben weitestgehend einzuschränken. Sicherlich, das hat zur Folge, dass Menschen nicht mehr zur Arbeit können, dass Schulen geschlossen und letztlich auch Kirchen leer bleiben müssen. Wir alle wissen: Dies dient dem Schutz der gesamten Gesellschaft und vor allem dem Schutz derjenigen, die ein deutlich höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben: alte Menschen. Alte Menschen und Vorerkrankte: Sie sind zur Risikogruppe erklärt!

Selbstverständlich bin ich den Politikern und allen wichtigen gesellschaftlichen Akteuren auch dankbar, dass sie aus Fürsorge dringend appellieren: „Die Alten müssen zu Hause bleiben!“ Das hat zur Folge, dass Enkel ihre Großeltern nicht mehr besuchen und die Großeltern nicht bei der Kinderbetreuung einspringen können – gerade jetzt, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitestgehend im Homeoffice arbeiten müssen und für Entlastung in ihrer zumeist ohnehin angespannten Familiensituation besonders dankbar für familiäre Hilfe wären. „Social distancing“ – „Soziale Distanznahme“ gilt als neue Etiketteregel. Soziale Distanznahme heißt auch, dass die Risikogruppen ihrerseits die Öffentlichkeit meiden müssen. Einkäufe, Treffen mit Bekannten, die so wichtig sind gegen Alleinsein und Vereinsamung, müssen unterbleiben. Dies ist auch für mich, der ich bisher stets viel beschäftigt war, eine erhebliche Einschränkung.

Sinkt das Recht auf Leben mit zunehmendem Alter?

Gleichzeitig spüren meine Frau und ich die Solidarität vieler Menschen. Die fünf jungen Familien in unserer Hausgemeinschaft ebenso wie bisher nahezu Fremde bieten uns an, unsere Einkäufe zu erledigen. Dies ist ein Dienst, der weit mehr ist als ein glücklicher Einzelfall. Bundesweit erklären sich derzeit unzählige Schülerinnen und Schüler bereit, an ihren nun schulfreien Tagen für andere Menschen einkaufen zu gehen. Über die sozialen Medien bieten junge Menschen Älteren und Bedürftigen ihre Hilfe an. Solche Aktionen und Initiativen zeigen, dass sich die Menschen gegenseitig wahrnehmen. Sie fördern die Solidarität zwischen den Generationen. Mir ist danach, an dieser Stelle ausdrücklich „Vergelt’s Gott!“ zu sagen. Und dennoch: Das durch das Virus ausgelöste weitreichende Kontaktverbot löst in unserer Gesellschaft etwas aus, das beunruhigt. Unweigerlich steht im Vordergrund, dass Menschen aufgrund von Vorerkrankungen oder schlichtweg aufgrund ihres Alters eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, schwer zu erkranken als gesunde und junge Menschen. Plötzlich spielen diese rein biologischen Faktoren eine Rolle. Sie werden zum sozialen Kriterium. Sie werden entscheidend für Zugehörigkeit und Teilhabe. Ja, angesichts der Coronapandemie werden sie schließlich zum Stigma in der Entscheidung über Leben und Tod!

Es macht mich schon sehr nachdenklich, wenn Meldungen über den Tod eines Covid-19-Opfers, die traurige Tatsache des Ablebens, unverzüglich mit der Angabe des Alters und dem Hinweis auf Vorerkrankungen des oder der Verstorbenen versehen werden. Für mich enthält diese Zusatzinformation immer auch den bitteren Beigeschmack der Relativierung. Sinkt denn das Recht des Einzelnen auf Leben mit fortschreitendem Lebensalter? Besitzt nicht jedes Leben von der ersten Sekunde seines Entstehens – seiner Zeugung – an bis zu seinem allerletzten Atemzug die gleiche Würde?

Ich finde es fatal, wenn ein hochrangiger Politiker aus den USA mit dem Appell an die Öffentlichkeit tritt: „Lasst uns an die Arbeit gehen, lasst uns wieder leben. Lasst uns klug sein, und wir, die wir über 70 Jahre alt sind, wir passen selbst auf uns auf. Aber opfert nicht das Land.“ Das größte Geschenk, das Großeltern ihren Enkeln machen könnten, sei das Erbe des Landes. Ich selbst bin fünffacher Großvater. Es versteht sich von selbst, dass ich alles tun werde, um meinen Enkelinnen und Enkeln eine gute Zukunft zu ermöglichen. Dennoch darf es – mit Blick auf die von unserem Schöpfer an jeden einzelnen Menschen zugesprochene Würde – nicht sein, dass wir beginnen, die Generationen gegeneinander auszuspielen und ihren Wert am Lebensalter bemessen.

Papst Franziskus hat vor wenigen Wochen in einer Ansprache über das Miteinander der Generationen gesprochen. Franziskus formulierte treffend und schön: „Es wird wichtig sein, dass die Älteren nicht nur als Trägerinnen und Träger von Bedürfnissen, sondern auch insgesamt neu betrachtet werden. (Sie sind) Träger von Träumen. Träume, voller Erinnerung! (...) Die älteren Menschen sind die Wurzeln. Von den Älteren kommt der Lebenssaft, der den Baum wachsen und blühen lässt und so neue Früchte trägt.“ Das Bild vom Lebensbaum hat mich berührt. Unsere Gesellschaft gleicht einem Organismus, der nur im Zusammenspiel funktioniert. Die Wurzeln nähren den gesamten Baum, damit dieser reiche Frucht trägt. Verdorren die Wurzeln, wird der gesamte Baum absterben.

Das Band der Fürsorge darf nicht zerreißen

Aktuell zwingen uns die Pandemie und alle ihre Folgen in die Situation, dass wir unser Miteinander, das für das Zusammenwirken der ganzen Gesellschaft geradezu existenziell wertvoll ist, auf ein Mindestmaß reduzieren müssen. Gerade für uns Christinnen und Christen ist es schwer zu verstehen, dass das, was sehr tief in der christlichen Tradition verankert ist, dass das, was Jesus selbst praktiziert hat, gerade jetzt nicht mehr möglich sein soll: Kontakt halten, tröstende Gespräche von Auge zu Auge, Berührungen, Zuwendung. Seelsorger können derzeit kaum Sakramente spenden, die so wichtig sind als sichtbare Zeichen der heilsamen Nähe Gottes, gerade in dieser Zeit. Gemeindegottesdienste müssen ausfallen – allen voran die Eucharistie, die die Quelle ist, aus der wir als Christinnen und Christen Kraft schöpfen.

Umso wichtiger ist es, dass wir das Band, das uns in unserer Gesellschaft zusammenhält, das stärkste, das wir als Christen von Jesus Christus her in den Händen halten, nicht zerreißen lassen. Es ist das Band der Solidarität, der Fürsorge füreinander – Barmherzigkeit und Nächstenliebe! In diesem Zusammenhang kommt mir in den letzten Tagen immer wieder ein Text aus dem Evangelium in den Sinn. An einer Stelle im Neuen Testament fragt Jesus den blinden Bettler Bartimäus: „Was willst du, dass ich dir tue?“ – Für mich ist dies ein Aufruf zur Zuwendung, gegen jegliche Form der Stigmatisierung.

Schauen wir alle, was unsere Nächsten brauchen, wo die konkreten Bedürfnisse liegen, schauen wir, wo wir auch in dieser Ausnahmesituation voneinander gewinnen können. Lassen Sie uns wachsam sein und achtsam, damit keiner verarmt und vereinsamt, auch die Alten und Kranken nicht. Lassen Sie mich Ihnen ein letztes Zitat mit auf den Weg geben. Auch dies stammt vom Heiligen Vater, unserem Papst Franziskus. Er sagt: „Alter ist keine Krankheit, es ist ein Privileg! Einsamkeit kann aber eine Krankheit sein...“

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Erstellt:
2. April 2020, 06:00 Uhr

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