Genesen, aber nicht gesund

Bei den meisten Menschen, die sich mit dem Coronavirus infizieren, nimmt die Krankheit einen milden Verlauf. Bei manchen beginnen die eigentlichen Probleme aber erst nach der Infektion. In einer Selbsthilfegruppe finden Post-Covid-Patienten im Rems-Murr-Kreis Unterstützung.

Schon alltägliche körperliche Belastungen bringen viele Post-Covid-Patienten an ihre Grenzen. Symbolfoto: Adobe Stock/motortion

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Schon alltägliche körperliche Belastungen bringen viele Post-Covid-Patienten an ihre Grenzen. Symbolfoto: Adobe Stock/motortion

Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. An Silvester 2020 dachte Edgar Wichtler, er hätte Corona überstanden. Drei Wochen lang hatte ihn die Krankheit buchstäblich umgehauen: „Ich lag im Bett und habe fast nichts mehr mitbekommen“, erzählt der Waiblinger, der durch eine Autoimmunerkrankung gesundheitlich vorbelastet war. Kopfschmerzen, Fieber, Atemnot – eine Einlieferung ins Krankenhaus drohte, doch Wichtler wollte nicht in die Klinik. Deshalb behandelte ihn sein Hausarzt zu Hause mit Infusionen und einem Nasenspray gegen Migräne. Irgendwann ging es tatsächlich bergauf: „Kurz vor dem Jahreswechsel dachte ich, jetzt ist alles wieder gut“, erinnert sich Wichtler.

War es auch, allerdings nur für wenige Wochen. Im Februar setzten neue Beschwerden ein. Der damals 63-Jährige fühlte sich plötzlich ohne erkennbaren Grund erschöpft, jeder Schritt wurde beschwerlich. Hinzu kamen Schmerzen beim Atmen: „Bei jedem Atemzug spürte ich einen Stich im Brustbereich.“ Verschiedene Untersuchungen beim Arzt brachten kein Ergebnis: „Messtechnisch gesehen war ich kerngesund“, erzählt Wichtler. Aber die Beschwerden waren nun mal da.

Eine Akupunkturbehandlung und ein zehntägiger Aufenthalt in einer Rehaklinik brachten zunächst Besserung. Sogar ein Urlaub in den Bergen war wieder möglich, auch wenn der passionierte Wanderer für den Aufstieg noch die Gondel brauchte. Wenig später folgte aber der nächste Rückschlag. An Hals und Nacken bildeten sich plötzlich kleine Bläschen, Diagnose: Gürtelrose. Wieder gings ins Krankenhaus: „Ich habe geschrien vor Schmerzen“, erinnert sich Edgar Wichtler. Bis heute muss er Morphium nehmen, um sie auszuhalten.

Für den 64-Jährigen steht fest, dass seine Covid-Infektion vor über einem Jahr die Ursache für die anschließende Leidensgeschichte ist. Bereits im vergangenen Jahr hat er deshalb Kontakt zur Interessenvertretung Post-Covid-Erkrankter mit Sitz in Magstadt aufgenommen und eine Selbsthilfegruppe im Rems-Murr-Kreis gegründet (siehe Anhang). Auf dem Papier hat die fast 30 Mitglieder, doch es kommen nie mehr als 15 zu den Gruppentreffen, was auch daran liegt, dass gar nicht alle gesundheitlich in der Lage sind, daran teilzunehmen.

Unausgesprochen steht oft der Vorwurf im Raum, die Betroffenen würden übertreiben oder sich alles nur einbilden.

Die Beschwerden der Teilnehmer sind sehr unterschiedlich: Sie reichen vom Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns über Schlafstörungen bis hin zu Konzentrationsproblemen und Wortfindungsstörungen. Selbst über Haarausfall klagten einige, berichtet Wichtler. Aber es gibt auch ein Symptom, das fast alle betrifft: chronische Erschöpfung. „Die Leute stehen morgens auf und sind genauso müde wie am Abend davor.“ Selbst essen sei eine Anstrengung. Edgar Wichtler erzählt von einem durchtrainierten jungen Mann, der vor seiner Krankheit mehrmals in der Woche Sport gemacht hat, jetzt schaffe er kaum noch einen Spaziergang um den Block.

An Arbeiten ist für die meisten PostCovid-Patienten gar nicht zu denken: Fast alle Mitglieder der Selbsthilfegruppe sind langfristig krankgeschrieben. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation macht vielen auch psychisch zu schaffen.

Bei den Arbeitgebern und selbst bei ihren Familien können die Betroffenen aber nicht immer mit Verständnis rechnen. Weil eine objektive Ursache meist nicht festzustellen ist, steht zumindest unausgesprochen oft der Vorwurf im Raum, sie würden übertreiben oder sich alles nur einbilden. „Das auszuhalten, ist schwer“, weiß Edgar Wichtler. Der frühere Telekom-Techniker hatte dieses Problem zum Glück nicht: Er war schon kurz vor seiner Coronainfektion in Rente gegangen.

Edgar Wichtler kämpft bis heute mit den Folgen seiner Coronainfektion. In einer Selbsthilfegruppe tauscht er sich mit anderen Betroffenen aus. Foto: G. Schneider

© Gaby Schneider

Edgar Wichtler kämpft bis heute mit den Folgen seiner Coronainfektion. In einer Selbsthilfegruppe tauscht er sich mit anderen Betroffenen aus. Foto: G. Schneider

Auch bei vielen Ärzten stoßen die Post-Covid-Patienten auf Ratlosigkeit. Weil die Langzeitfolgen der Virusinfektion noch nicht ausreichend erforscht sind, gibt es auch keine allgemein anerkannte Therapie. In den Praxen und Kliniken werde alles Mögliche ausprobiert, erzählt Edgar Wichtler. Manchmal auch das Falsche. Der Waiblinger berichtet von einer Rehaklinik, die den Patienten ein umfangreiches Sportprogramm verordnet habe. „Dadurch sind manche erst richtig krank geworden.“

Auch deshalb hält der Gründer die Selbsthilfegruppe für so wichtig. Hier können sich die Betroffenen austauschen: Welche Therapie hat bei anderen geholfen? Welcher Arzt hat die nötige Expertise? Welche Klinik kann Erfolge vorweisen? Einige Mitglieder der Gruppe nehmen auch an klinischen Studien mit neuen Medikamenten und Therapiemethoden teil. „Es gibt da schon einige Ansätze, aber von einem Durchbruch sind wir noch meilenweit entfernt“, sagt Edgar Wichtler. Zumal die Erfahrung gezeigt habe, dass die Therapieerfolge bei Post-Covid-Patienten so unterschiedlich sind wie deren Symptome: „Bis jetzt gibt es kein Medikament, das allen hilft“, weiß der Leiter der Selbsthilfegruppe.

Auffällig ist übrigens auch, dass es offenbar keinen Zusammenhang zwischen der Schwere der akuten Covid-Erkrankung und den Langzeitfolgen gibt. Er selbst sei mit seinem relativ schweren Krankheitsverlauf sogar die Ausnahme in der Gruppe, erzählt Edgar Wichtler. Die große Mehrheit der Mitglieder habe während der Infektion nur leichte Symptome gehabt.

Die aktuellen Rekordwerte bei den Infektionszahlen sieht der Waiblinger deshalb mit gemischten Gefühlen. „Ich gehe eigentlich davon aus, dass die Omikron-Variante nicht mehr so schwerwiegende Folgen haben wird“, sagt er, fügt aber hinzu: „Ich hoffe, ich werde nicht Lügen gestraft.“

Long Covid und Post Covid

Unterscheidung Bei der Beurteilung der Langzeitfolgen nach einer Covid-Infektion unterscheidet die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie zwischen Long Covid und Post Covid. Verläufe einer Covid-19-Erkrankung mit andauernden oder neu hinzukommenden Symptomen über mehr als vier Wochen werden als Long Covid bezeichnet. Bestehen die Beschwerden sogar länger als zwölf Wochen nach einer akuten Infektion, spricht man vom Post-Covid-19-Syndrom.

Häufigkeit Verschiedene Studien kommen zu zum Teil recht unterschiedlichen Ergebnissen. Experten gehen aber davon aus, dass der Anteil der Patienten, die langfristig unter schweren Symptomen leiden, zwischen zwei und fünf Prozent liegt. Schätzungen zufolge sind in Deutschland derzeit etwa 550000 Genesene von Long Covid oder Post Covid betroffen.

Selbsthilfegruppe Die Post-Covid-Selbsthilfegruppe Rems-Murr trifft sich immer am zweiten und vierten Montag im Monat um 19.15 Uhr im Kulturhaus Schwanen in Waiblingen. Anmeldung bei Edgar Wichtler unter Telefon 0171/3333109 oder per E-Mail an eddie.wichtler@t-online.de. Weitere Informationen zur Krankheit gibt es im Internet unter www.leben-mit-covid.de.

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Erstellt:
16. März 2022, 06:00 Uhr

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