„Ich rechne mit Inzidenzen von über 2000“

Interview Die Coronazahlen im Rems-Murr-Kreis sind auf Rekordniveau. Jens Steinat, Arzt aus Oppenweiler und Pandemiebeauftragter der Kreisärzteschaften, erklärt, wieso diesmal trotzdem kein Lockdown nötig ist und warum er sich dennoch Sorgen macht.

In seiner Praxis in Oppenweiler behandelt Hausarzt Jens Steinat viele Covid-Patienten. Sich selbst und sein Team vor Ansteckung zu schützen, hat dabei oberste Priorität. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

In seiner Praxis in Oppenweiler behandelt Hausarzt Jens Steinat viele Covid-Patienten. Sich selbst und sein Team vor Ansteckung zu schützen, hat dabei oberste Priorität. Foto: A. Becher

Als Laie wundert man sich: Die 7-Tage-Inzidenz im Rems-Murr-Kreis ist so hoch wie nie zuvor, gleichzeitig läuft das öffentliche Leben beinahe normal weiter. Ist Corona plötzlich gar nicht mehr so schlimm?

Man muss das differenziert sehen. Wir haben mit der Omikron-Variante, die mittlerweile ungefähr 80 Prozent der Fälle ausmacht, eine Variante, die einen etwas milderen Verlauf nimmt, weil sie eher die oberen Atemwege befällt und nicht so tief ins Lungengewebe eindringt wie die Delta-Variante. Und wir haben eine gewisse Immunisierung in der Bevölkerung durch durchgemachte Infektionen oder durch Impfung. Wir sehen auch bei uns, dass Durchbruchsinfektionen bei Geimpften durchgängig harmlose Verläufe haben. Anders sieht es definitiv bei Ungeimpften aus, insbesondere bei Personen über 60. Hier gibt es auch bei Omikron schwere Verläufe.

Restaurants, Fitnessstudios und Schulen sind weiterhin geöffnet, auch Sport- und Kulturveranstaltungen finden nach wie vor statt. Halten Sie das für richtig?

Ich halte das generell für vertretbar unter Berücksichtigung der Hygienerichtlinien. In den Schulen wurde ja vorübergehend täglich getestet und die Hygienekonzepte sind mittlerweile etabliert. Im Übrigen hatte inzwischen auch jeder die Chance, sich und seine Kinder impfen zu lassen. Letztes Jahr hätte ich Ihnen noch etwas anderes geantwortet: Da habe ich mich über das Offenhalten der Schulen geärgert, weil die Impfung für Kinder noch nicht verfügbar war. Abstand halten, Maske tragen und regelmäßiges Durchlüften sind aber weiterhin wichtig. Überdenken würde ich auch Unterrichtsfächer wie Sport oder Musik, bei denen sich Hygienemaßnahmen schlechter umsetzen lassen.

Geimpfte fühlten sich bis vor Kurzem noch relativ sicher, doch selbst eine Boosterimpfung scheint vor einer Omikron-Infektion nicht zuverlässig zu schützen. Machen 2-G-Regelungen da überhaupt noch Sinn?

Ja, durchaus. Symptomatische Durchbruchsinfektionen sind immer noch relativ selten im Verhältnis zur Menge der Geimpften. Außerdem haben Geimpfte so gut wie nie einen schweren Verlauf, sodass sie die kritischen Strukturen im Gesundheitswesen nicht belasten. Eine harmlosere grippale Infektion ist natürlich eher vertretbar als eine schwere Infektion mit kritischem Verlauf.

Die bisherigen Coronamaßnahmen können den Anstieg der Infektionen offenbar nicht stoppen. Mit welchen Inzidenzzahlen müssen wir in den nächsten Tagen und Wochen noch rechnen?

Ich gehen davon aus, dass die Zahlen, wie vom Expertenrat der Bundesregierung mehrfach kommuniziert, in den nächsten Wochen noch massiv steigen werden. Ich rechne auch bei uns mit Inzidenzen von über 2000. Und das ist auch der Knackpunkt an der ganzen Geschichte. Der Vorteil der milderen Variante wird egalisiert durch die absolute Zahl der Infektionen, sodass wir wahrscheinlich wieder in eine kritische Situation kommen werden.

Was befürchten Sie konkret?

Wir sind uns in den Gremien relativ einig, dass in dieser Welle wahrscheinlich nicht die Intensivstationen das Problem sein werden, sondern dass vor allem die ambulanten und die normalstationären Strukturen im Krankenhaus massiv belastet werden. Das halte ich für ein großes Problem, insbesondere weil wir damit rechnen müssen, dass Personal in Arztpraxen und an Kliniken durch eigene Durchbruchsinfektionen oder als Kontaktpersonen ausfallen wird und sich die ambulante Versorgung dadurch massiv reduzieren könnte.

Wie ist die Situation in den Praxen der niedergelassenen Ärzte aktuell?

Momentan haben wir diese Probleme glücklicherweise noch nicht. Man muss dazu sagen, dass wir in den Praxen eine extrem hohe Durchimpfungsrate bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben und es durch konsequente Infektionsschutzmaßnahmen jetzt zwei Jahre geschafft haben, dass sich unser Personal größtenteils nicht infiziert hat. Wenn wir diese Konzepte auch bei Omikron weiterhin umsetzen, können wir hoffentlich das Schlimmste vermeiden.

Die Arbeitsbelastung wird aber weiterhin hoch bleiben.

Ja, das ist so. Der Dezember war schon katastrophal und hat mich persönlich gesundheitlich kurz vor den Kollaps geführt. Es war eine massive Belastung, auch bei den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen und im Krankenhaus. Das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Deswegen waren alle froh, dass wir nach dem Abebben der Delta-Welle mal zwei Wochen durchschnaufen konnten. Jetzt merken wir aber schon wieder, dass die Fallzahlen zunehmen. Wir hoffen wirklich, dass wir die neue Welle möglichst flach halten können, denn viele von uns sind gezeichnet durch zwei schwere Jahre.

Wann wird die Omikron-Welle nach Ihrer Einschätzung brechen?

In den Szenarien, die von verschiedenen Epidemiologen der Universitätskliniken in Baden-Württemberg gerechnet wurden, wird davon ausgegangen, dass es bis Ende Januar weiter zu einem massiven Anstieg der Fallzahlen kommen wird. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir sogar noch bis Ende Februar hohe Fallzahlen haben werden und mit einer nachhaltigen Entspannung erst im April zu rechnen ist.

Ein Grund für die hohen Infektionszahlen ist die zu niedrige Impfquote. Im Rems-Murr-Kreis liegt sie mit rund 66 Prozent sogar noch unter dem Bundesschnitt. Können Sie nachvollziehen, dass Menschen bewusst auf eine Impfung verzichten?

Nein. Was ich als Arzt nicht begreife, ist, dass es Menschen gibt, die vor einem lebenden Virus in ihrem Körper weniger Angst haben als vor einer Impfung. Und das, obwohl nachgewiesen ist, dass Viren verschiedenste schwere Erkrankungen auslösen können, von Krebs bis Multiple Sklerose. Die Impfung ist sicher, wirksam und millionenfach weltweit verimpft worden, dagegen ist die natürliche Virusinfektion immer die schlechtere Wahl. Eine neue Studie zeigt, dass jede Covid-Infektion, egal wie harmlos sie abläuft, Organe schädigt. Das macht vielleicht nur zwei oder drei Prozent der Herz- oder Lungenleistung aus und ein junger Mensch merkt das gar nicht. Aber 20 oder 30 Jahre später kann genau das zu einem Problem führen.

Trotzdem demonstrieren auch in Backnang jede Woche Hunderte gegen eine Impfpflicht und alle Coronamaßnahmen. Wie stehen Sie dazu?

Ich habe Verständnis, dass Menschen sich Sorgen machen, und auch dafür, dass sie auf die Straße gehen. Allerdings nicht, wenn sich diese Demonstrationen gegen wissenschaftlich begründete und Menschenleben schützende Maßnahmen wie zum Beispiel die Maskenpflicht und die Impfung richten. Was mir bei vielen fehlt, ist die Einsicht und das Bewusstsein, dass es hier nicht um die einzelne Person geht, sondern um gesellschaftliche Verantwortung. Auch um Verantwortung gegenüber den Menschen, die für die Sicherheit und Gesundheit sorgen, damit meine ich Rettungsdienst, Krankenhaus, Praxen, Polizei, Feuerwehr. Ich finde, es ist ein Zeichen der Wertschätzung, dass man sich dementsprechend verhält.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat einmal gesagt: Nicht alles, was erlaubt ist, muss man auch tun. Welches Verhalten empfehlen Sie in diesen Tagen?

Es wäre gut, wenn sich alle noch einmal vier bis sechs Wochen zurücknehmen, zum Eigenschutz und zum Schutz der kritischen Infrastruktur. Man muss jetzt keine Feste feiern mit der maximal zulässigen Personenzahl. Und man muss meines Erachtens auch nicht Skifahren gehen und anschließend in der Hütte sitzen, obwohl ich gut verstehen kann, dass viele das nach zwei Jahren Entbehrung gerne machen würden.

Das Interview führte Kornelius Fritz.

Situation in den Kliniken

Aktuelle Lage An den Rems-Murr-Kliniken hat sich die Situation zuletzt deutlich entspannt. Momentan werden an den Standorten Winnenden und Schorndorf insgesamt 30 Covid-19-Patienten versorgt, zehn davon auf der Intensivstation. Zum Vergleich: Am Höhepunkt der vierten Welle Ende November wurden im Rems-Murr-Kreis 82 Infizierte stationär behandelt.

Prognose Aufgrund der neuen OmikronVariante rechnet Torsten Ade, Chefarzt der Interdisziplinären Notaufnahme, in den kommenden Wochen wieder mit steigenden Fallzahlen: „Wir gehen davon aus, dass die Hauptlast diesmal bei den niedergelassenen Ärzten, den Normalstationen und den Notaufnahmen sein wird.“ Ade rechnet dort mit einem erhöhten Bedarf an Untersuchungen unter Isolationsbedingungen: „Dies kann zu Engpässen führen.“

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Erstellt:
19. Januar 2022, 06:00 Uhr

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