Inzidenz 372: Der Landrat schlägt Alarm

Die Zahl der Coronainfektionen im Rems-Murr-Kreis steigt dramatisch: Gestern meldete das Gesundheitsamt 315 Neuinfektionen – das ist der höchste Tageswert seit Beginn der Pandemie. Landrat Richard Sigel warnt davor, noch länger tatenlos zuzusehen.

Foto: A. Becher

© Alexander Becher

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Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. Die Inzidenz ist mittlerweile zwar nicht mehr der einzige Orientierungswert für die Beurteilung der Coronalage. Trotzdem sind die Zahlen der vergangenen Tage und vor allem das Tempo, mit dem sie gestiegen sind, alarmierend. Mit wöchentlich 372 Neuinfektionen je 100000 Einwohnern wurde gestern ein neuer Rekordwert erreicht – in der zweiten und dritten Welle war die Inzidenz nie über 250 gestiegen.

In der Folge nimmt auch die Patientenzahl an den Rems-Murr-Kliniken wieder zu. Aktuell werden in Winnenden und Schorndorf 50 Covid-Patienten behandelt, sieben davon werden auf der Intensivstation beatmet. Das sind zwar noch deutlich weniger als im vergangenen Dezember, als bis zu 90 Infizierte stationär behandelt wurden, doch wenn die Infektionszahlen weiterhin ungebremst nach oben gehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch hier neue Höchstwerte erreicht werden. „Wir sehen, dass die Patientenzahlen seit Wochen steigen. Man muss kein Hellseher sein, um zu prognostizieren, dass wir – ohne Gegenmaßnahmen – im Dezember in die Knie gehen werden“, sagt Marc Nickel, Geschäftsführer der Rems-Murr-Kliniken. Die Klinikleitung denkt schon wieder darüber nach, planbare Operationen zu verschieben, um genügend Betten für Covid-Patienten frei zu halten.

Auch die niedergelassenen Ärzte funken SOS: „Es gibt klare Überlastungszeichen“, sagt Jens Steinat, Sprecher der Ärzteschaft Backnang und Pandemiebeauftragter des Landkreises. Das ambulante System funktioniere nur noch, weil die Teams in vielen Praxen weit mehr leisteten als üblich. Auf Dauer sei das aber nicht zu stemmen. Durch die wachsende Zahl an Covid-Fällen fehle die Zeit für die Versorgung anderer Patienten und auch für die Coronaimpfungen. „Wir waren schon vor der Pandemie an der Belastungsgrenze. Man kann nicht immer noch mehr draufpacken“, kritisiert der Allgemeinmediziner aus Oppenweiler.

Kreis plant tägliche Impfaktionen in vielen Städten und Gemeinden

Damit die Zahlen nicht weiter ungebremst durch die Decke gehen, fordert Richard Sigel „schnelle und mutige Entscheidungen von der Politik“. Der Landrat plädiert unter anderem für eine Rückkehr zur Maskenpflicht an Schulen, kostenlose Tests und eine Impfpflicht für Mitarbeiter in sensiblen Bereichen. „Im Sommer wurde alles, was sich bewährt hatte, über Bord geworfen“, kritisiert Sigel. „Diese Versäumnisse und Fehlentscheidungen holen uns jetzt ein.“

2356 Kreisbewohner sind aktuell wegen einer Coronainfektion in Quarantäne. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl sind die Gemeinden Aspach und Berglen am stärksten betroffen. Dort ist zurzeit rund ein Prozent der Bevölkerung an Covid 19 erkrankt. Grafik: S. Horn

2356 Kreisbewohner sind aktuell wegen einer Coronainfektion in Quarantäne. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl sind die Gemeinden Aspach und Berglen am stärksten betroffen. Dort ist zurzeit rund ein Prozent der Bevölkerung an Covid 19 erkrankt. Grafik: S. Horn

Beunruhigt sind auch die Betreiber von Alten- und Pflegeheimen: „Ich habe große Bauchschmerzen“, bekennt Sabine Laible, stellvertretende Geschäftsführerin der Staigacker-Stiftung, die insgesamt fünf Heime in Backnang betreibt. Bisher gab es unter den Bewohnern, die fast alle geimpft sind, zwar noch keine neuen Coronafälle, aber die Sorge vor Impfdurchbrüchen wächst angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen. Man biete deshalb auch geimpften und genesenen Besuchern wieder kostenlose Schnelltests vor Ort an, erklärt Laible. Außerdem müssen Gäste jetzt wieder eine FFP2-Maske tragen.

Zusammen mit den Hausärzten organisiert die Heimleitung zurzeit Auffrischimpfungen für alle Bewohner. „Bis Ende November werden wir damit durch sein“, hofft Sabine Laible. Und wie ist die Impfbereitschaft unter den Pflegekräften? Die stellvertretende Geschäftsführerin schätzt die Quote auf rund 70 Prozent, alle Ungeimpften müssen sich täglich vor Dienstbeginn testen. Wohler wäre es der Heimleitung allerdings, wenn sich noch deutlich mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für eine Impfung entscheiden würden. Eine Impfpflicht hält Laible dennoch für falsch: „Es gibt einige, die wir noch überzeugen können. Manche sind einfach zu bequem.“

Auch der Landkreis hofft, mit weiteren niederschwelligen Impfaktionen noch möglichst viele Menschen zu erreichen. Das Impfzentrum in der Waiblinger Rundsporthalle ist zwar seit Ende September geschlossen und soll es nach dem Willen von Richard Sigel auch bleiben. „Wir haben das Impfzentrum komplett abgebaut und bräuchten mindestens zwei Wochen, um es wieder hochzufahren“, sagt der Landrat. Die Erfahrung habe aber ohnehin gezeigt, dass die Resonanz bei dezentralen Impfaktionen wesentlich besser sei.

Deshalb will der Landkreis zusammen mit den Städten und Gemeinden in den nächsten Wochen wieder Vor-Ort-Aktionen anbieten (siehe Infobox). „Wir möchten, dass es täglich an mehreren Stellen im Landkreis niederschwellige Angebote gibt“, erklärt Sigel. Auch bei der Impfung von Kindern und Jugendlichen würde der Kreis gerne schneller vorankommen. Sigel hofft, dass die Ständige Impfkommission den Biontech-Impfstoff auch in Deutschland möglichst rasch für unter Zwölfjährige freigibt. Die Kinderklinik in Winnenden stünde in diesem Fall Gewehr bei Fuß: „Sobald die Zulassung da ist und die Eltern das wollen, werden wir Impfangebote machen und planen Impfaktionen in der Kinderklinik der Rems-Murr-Kliniken“, erklärt Chefarzt Ralf Rauch. Denn eine Coronainfektion verläuft bei Kindern zwar in den meisten Fällen milde, aber eben nicht in allen. Seit Beginn der Pandemie wurden in Winnenden laut Rauch bereits 50 infizierte Kinder stationär behandelt. Bei fünf von ihnen führte die Covid-Infektion sogar zu einem pädiatrischen inflammatorischen Multiorgan-Syndrom, einer entzündlichen Krankheit, die gleich mehrere Organe angreift.

Impfaktionen im Landkreis

Übersicht In den kommenden Wochen sind wieder Impfaktionen in verschiedenen Städten und Gemeinden im Rems-Murr-Kreis geplant. Wer möchte, kann ohne Termin vorbeikommen. Die Impfungen werden vom mobilen Impfteam des Klinikums Stuttgart oder von Ärztin Monika Lenz in ihrem Impfmobil durchgeführt.

Eine täglich aktualisierte Liste mit allen Impfterminen ist abrufbar unter: www.rems-murr-kreis.de/kiz

Termine Folgende Aktionen stehen bereits fest:

Vom 15. November bis 20. Dezember immer montags von 14 bis 18 Uhr in der Alten Kelter Fellbach.

Mittwoch, 17. November, 11.30 bis 17 Uhr Rathausplatz Leutenbach.

Montag, 29. November, und Freitag, 3. Dezember, jeweils 15 bis 20 Uhr vor dem Seniorenbüro, Im Biegel 13, Backnang.

Freitag, 10. Dezember, 14 bis 19 Uhr: Winnenden, Linsenhalde 5.

Samstag, 18. Dezember, 11.30 bis 17 Uhr Turn- und Versammlungshalle Allmersbach im Tal, Im Wacholder 75.

Samstag, 18. Dezember, 15 bis 20 Uhr Backnang vor dem Seniorenbüro, Im Biegel 13.

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Erstellt:
11. November 2021, 06:00 Uhr

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