Kinderärzte empfehlen Freiluftkontakte

Die Mediziner Martin Kimmig und Gerold Remlinger halten die Gefahr einer Ansteckung mit Covid-19 auf Spielplätzen für relativ niedrig und somit vertretbar. Voraussetzung ist jedoch das verantwortungsvolle Verhalten vor allem der Eltern.

Spielen im Freien tut Körper und Seele der Kleinen gut. Und mit glücklichen Kindern haben es auch die Eltern leichter. Foto: Adobe Stock/Halfpoint

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Spielen im Freien tut Körper und Seele der Kleinen gut. Und mit glücklichen Kindern haben es auch die Eltern leichter. Foto: Adobe Stock/Halfpoint

Von Matthias Nothstein

WEISSACH IM TAL/OBERSTENFELD. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen haben ganz unterschiedlich mit den Auswirkungen der Coronapandemie zu kämpfen. Senioren erhielten keinen Besuch mehr, Schüler konnten nicht mehr in die Schule, Arbeitnehmer zogen sich ins Homeoffice zurück und für Ärzte, Polizisten, Verkäufer, Busfahrer oder Pflegekräfte hieß es Augen zu und durch. Aber wie geht es derzeit Säuglingen? Diese haben in Vor-Corona-Zeiten zusammen mit ihren Müttern und Vätern Krabbelgruppen besucht oder auf Spielplätzen Rasseln getauscht. Inzwischen gibt es Kleinkinder, die im ersten Lebensjahr nur Erwachsene um sich herum sehen und auf andere Säuglinge – wenn sie ihnen dann doch einmal unter die Augen kommen – gelinde gesagt sehr irritiert reagieren.

Doch der Oberstenfelder Kinderarzt Martin Kimmig winkt ab, die Auswirkungen auf die Psyche oder das Sozialverhalten der Kleinkinder hängt von anderen Faktoren viel mehr ab als von der Tatsache, dass die Gleichaltrigen in diesem frühen Lebensalter zusammenkommen. Er verweist einerseits darauf, dass es noch keine Studien gibt, die sich mit der Betroffenheit von Säuglingen oder Kleinkindern während der Pandemie beschäftigen. Andererseits sei es auch früher nicht die Regel gewesen, dass die Eltern Krabbelgruppen aufgesucht hätten. Viel häufiger sei der Fall, dass sich die Mütter oder Väter auf der Straße getroffen haben. Zudem seien auch früher nicht wenige Kinder als Einzelkinder aufgewachsen. „Bei denen war der Kontakt mit anderen Kindern in den ersten zwei Lebensjahren auch nicht so häufig. Wichtig ist jedoch, dass es noch andere Kontakte gibt, etwa zu Tanten, Onkels oder Großeltern.“

Aktuell ist es aber so, dass die Kontakte an öffentlichen Plätzen, in Gaststätten, Eisdielen oder Cafés zum Teil nicht nur nicht erlaubt sind, sondern geradezu gemieden werden, auch freiwillig. War man in Vor-Corona-Zeiten schon mitten im Gespräch, wenn sich jemand über den Kinderwagen gebeugt hatte, so kann es heute vorkommen, dass Eltern die Straßenseite wechseln, aus Rücksicht oder aus Vorsicht.

Kinderarzt Kimmig vertritt auch bei den größeren Kindern eine eindeutige Linie: „Ich befürworte es, wenn Eltern ihr Kind trotz allem in den Kindergarten schicken, da gehört es hin. Die sozialen Kontakte fehlen extrem.“ Ebenso bei den Schulkindern. Die Diskussion um den Präsenzunterricht reduziert sich laut Kimmig immer nur auf den Aspekt lernen. „Als wäre die Schule ausschließlich dazu da, Wissen zu vermitteln. Es geht auch ums soziale Miteinander und die Interaktion. Wenn es nur ums Lernen ginge, dann würde auch ein Youtube-Video reichen.“

Die Entwicklung bereitet dem Mediziner Sorge. Seine Reaktion: „Ich ermuntere die Eltern immer, mit den Kindern raus zu gehen, der Austausch ist wichtig. Gehen Sie auf den Spielplatz, denn dort stecken Sie sich nicht an.“ Kimmig ärgert die Einstellung, dass Kinder ohnehin in der Prioritätenliste nicht an erster Stelle stehen würden. „Es klingt ein bisschen wie: Die Kinder gibt es halt auch noch.“

„Gehen Sie raus in den Wald, in die Sonne. Dann sind die Kinder gut drauf.“

Das Problem bei den ganz Kleinen ist der fehlende Kontakt der Mütter untereinander. Er gibt zu bedenken, dass die Kleinen beispielsweise in einer Krabbelgruppe ohnehin oft nebeneinanderher spielen. „Aber der Austausch der Mütter und Väter untereinander, den halte ich für sehr, sehr wichtig, und der fehlt.“ Er verweist auch darauf, dass vor allem viele werdende Mütter mitten im Arbeitsleben stehen. Dann kommt das Kind zur Welt und sie sind mit einem Schlag abgeschnitten von ihren Kontakten.

Und Kontakte wären gerade draußen an der frischen Luft kein Problem. Er erinnert an den ersten Lockdown im Frühjahr 2020, als auch noch die Spielplätze gesperrt wurden. „Das fand ich völlig daneben.“ Dass damals einige Gemeinden die Sportplätze offen gelassen und toleriert hätten, wenn sich Kinder zum Kicken treffen, das begrüßte er sehr. Gerade jetzt, wo es deutlich wärmer wird, rät Kimmig allen Familien mit Kleinkindern, rauszugehen: „Das ist das Allerwichtigste. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich im Freien ansteckt, ist viel geringer als etwa beim Kaffeetrinken in einem Gebäude.“ Selbst wenn die Kinder dann engen Hautkontakt untereinander haben, ändert dies nichts an der Einschätzung des Mediziners: „Es gibt in der Tat Kinder mit sechs Monaten oder Babys, die infiziert sind, aber die haben sich dann bei den Eltern angesteckt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind sich bei einem anderen Säugling das Virus einfängt, bloß weil sie sich den Schnuller zeigen, halte ich für relativ gering.“

Dem stimmt auch der Weissacher Kinderarzt Gerold Remlinger zu. Drei Kinder zusammen im Sandkasten stellen für ihn kein Risiko dar. „Wenn die nicht direkt beieinandersitzen und sich den Schnodder ins Gesicht schmieren, ist das Risiko minimal.“ Wobei er einschränkt, dass diese Einschätzung für die verschiedenen Varianten womöglich nicht mehr gilt. Remlinger: „Die Ansteckungsgefahr ist gegeben, aber sie ist signifikant geringer als in einem geschlossenen Raum.“

„An den Babys sieht man, wie die Eltern drauf sind“, lautet eine Erfahrung Remlingers. Wenn die Eltern quarantänemüde sind, dann äußern sie sich auch dementsprechend. „Und so sind dann auch die Kinder drauf. Sie sind unruhiger, unzufrieden, unausgeglichen.“ So lautet auch sein Appell: „Nutzen Sie das gute Wetter, gehen Sie raus in den Wald, in die Sonne, dann sind die Kinder gut drauf. Das Kind ist das Spiegelbild der Eltern.“ Es liegt laut Remlinger in der Verantwortung der Eltern, dass sie sich um ihr eigenes Wohl kümmern, dass sie rausgehen und schauen, dass es ihnen gut geht. Wenn Eltern klagen, sie könnten derzeit nichts unternehmen, widerspricht ihnen der Mediziner und fordert Eigeninitiative, Durchhaltevermögen und Geduld. „Das fehlt vielen Eltern derzeit.“ Zwar rät auch er davon ab, auf jene Spielplätze zu gehen, die überlaufen sind, „eine gewisse Distanz macht schon Sinn“. Aber die Unvernünftigen sind viel eher die Erwachsenen. Remlinger: „Eine Beobachtung, die ich oft mache, ist, dass weniger die Kinder das Problem sind, sondern die Eltern, die eng zusammenkommen. Die Leute sind zwar draußen, aber ohne Abstand.“ Hinterher hört der Mediziner oft Sätze wie: „Ich weiß gar nicht, wo ich mich angesteckt habe.“

Aus seinem Erfahrungsschatz erinnert er noch an einen Trick für den Umgang mit Säuglingen, der in der Pandemie wichtiger ist denn je: die Kleinen vor einen Spiegel legen. „Das führt dazu, dass das Kind zwar sich selber, aber vom Empfinden her ein anderes sieht, das kann schon einen Anreiz schaffen.“ Mit dem Spiegeltrick hat Remlinger schon viele gute Erfahrungen gemacht. „Die Kinder sind beim Anblick ihres Spiegelbilds voll gut drauf. Wenn dann noch Mutter und Vater davorstehen, dann ist das schon eine Gruppe, das ist auch eine Form der Kommunikation.“

Auch bei älteren Kindern und dem Thema Masken appelliert der Mediziner an die Verantwortung der Eltern. Wenn diese vermitteln, Masken seien bescheiden, dann übernimmt auch das Kind diese Einstellung. Wenn ihm aber vermittelt wird, Maske tragen ist gut und wichtig, dann sind die Kinder mit Feuereifer dabei. „Zwei- oder Dreijährige, die das gar nicht bräuchten, wollen dann auch eine Maske. Wie es die Eltern rüberbringen, so tragen es die Kinder weiter. Es hilft gar nichts, wenn wir negativ drauf sind, wir müssen positiv denken und Geduld haben. Wir haben eine gute Chance, dass wir mit den Impfungen bis zum Herbst ein solches Niveau erreichen, dass wir das normale Leben wieder zurückbekommen können.“

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Erstellt:
29. Mai 2021, 06:00 Uhr

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