Mit ärztlicher Verordnung ist alles erlaubt

Physiotherapeuten stehen auch in der Coronakrise für ihre Patienten parat und setzen auf umfangreiche Hygienemaßnahmen

Sich vom Physiotherapeuten durchkneten und zu Übungen anleiten zu lassen, klingt in Zeiten der Coronakontaktsperren zunächst einmal widersinnig, ist mit einer ärztlichen Verordnung aber ausdrücklich erlaubt. Weil das allerdings längst nicht allen klar ist, weil trotz aller Hygienemaßnahmen in den Praxen viele Patienten aus Angst vor dem Virus lieber zu Hause bleiben und weil Wellnessbehandlungen derzeit vollständig untersagt sind, hat auch diese Branche mit massiven Problemen zu kämpfen.

Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit: Physiotherapeutin Sabine Winkler leitet einen Patienten zu verschiedenen Übungen an. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit: Physiotherapeutin Sabine Winkler leitet einen Patienten zu verschiedenen Übungen an. Foto: A. Becher

Von Steffen Grün

BACKNANG/MURRHARDT/WEISSACH IM TAL. „Viele Patienten sind überrascht, dass wir da sind“, sagt Volker Max. Der Physiotherapeut aus Unterweissach äußert den Verdacht, dass die Bundeskanzlerin daran ihren Anteil hat. Als sie am 22. März die verschärften Einschränkungen für den Alltag in Deutschland verkündete, sprach Angela Merkel unter anderem davon, dass neben Friseuren und weiteren Dienstleistungsbetrieben ab sofort auch Massagepraxen geschlossen bleiben müssten, „weil in diesem Bereich eine körperliche Nähe unabdingbar ist“. Der wichtige Nachsatz, dass alles, was medizinisch notwendig ist, weiterhin gestattet ist und sich damit beispielsweise Masseure mit Kassenzulassung sowie Physiotherapeuten nach wie vor um ihre Patienten kümmern dürfen, ging in der breiten Bevölkerung wohl ein Stück weit unter.

Selbstzahler dürften während der Coronakrise nicht behandelt werden, präzisiert Volker Max. Zwingend erforderlich sei aktuell eine ärztliche Verordnung, auf diesem Wege käme jedoch sowieso „der Löwenanteil“ zu ihm, „etwa 90 Prozent“. Der Rückgang bei den Patientenzahlen betrage dennoch rund 30 Prozent, rechnet der 46-Jährige vor und hat dafür einige Erklärungsansätze. Zum Beispiel liegen bei ihm derzeit kaum Sportler mit ihren Wehwehchen auf der Pritsche, „weil keine Spiele stattfinden und weil auch nicht trainiert wird“, sagt der Physiotherapeut des Fußball-Verbandsligisten TSG Backnang. Stärker ins Gewicht fällt aber wohl, dass „die Leute Angst haben, sich bei uns etwas einzufangen“. Es ist eine Sorge, die auch Ärzte beobachten und die so ausgeprägt sein kann, dass Menschen selbst dann nicht die Praxen aufsuchen, wenn es unbedingt ratsam wäre. Volker Max ist darum bemüht, diese Bedenken zu zerstreuen: „Wir haben ausreichend Desinfektionsmittel für uns und für die Patienten, wir arbeiten mit medizinischem Mundschutz und die Kabinen sowie die Bänke werden nach jeder Behandlung desinfiziert.“ Zudem werden die Termine so gesteuert, dass in der Praxis deutlich weniger als in normalen Zeiten los ist und im Wartezimmer die empfohlenen Abstände stets eingehalten werden können.

Reha-Sport in Gruppen wird am Bildschirm wieder aufgenommen

Diese und weitere Hygiene- und Sicherheitsregeln wie eine strikte Trennung der einzelnen Schichten und Online-Meetings, damit die Mitarbeiter nicht aufeinandertreffen, hat sich auch Sabine Winkler auf die Fahnen geschrieben. Trotzdem beklagt die Inhaberin des Backnanger Physiomed- Therapiezentrums „massive Einbrüche bei den Patientenzahlen“, um etwa 50 Prozent sei die Auslastung zuletzt gesunken. Sich einfach damit abzufinden, kommt für sie aber nicht infrage, stattdessen stemmt sie sich mit neuen Mitteln gegen diesen Trend. Der schon am 16. März ausgesetzte Reha-Sport in Gruppen wird nun via Bildschirm wieder aufgenommen, zudem können auf dieselbe Weise auch Risikopatienten während der Coronapandemie ihre Krankengymnastik daheim erledigen und Hausbesuche vorübergehend ersetzt werden. Für die Mitglieder, die in ihrer Praxis sonst ohne eine ärztliche Verordnung zum Beispiel an den Geräten trainieren und dies derzeit nicht tun dürfen, hat sie ein Online-Tool eingerichtet und in diesen schweren Zeiten „per E-Mail um Solidarität gebeten“.

Ein ausdrückliches Lob gibt es von Sabine Winkler für die Krankenkassen, denn die hätten schnell auf die kritische Situation reagiert und zum Beispiel die Fristen von Rezepten verlängert. Darüber hinaus dürften „vom Arzt auch telefonisch Folgerezepte ausgestellt werden, ein Praxisbesuch ist derzeit nicht notwendig“. Letzteres sei ein wichtiger Baustein, um die Zahl der Patienten in den nächsten Wochen ein Stück weit zu stabilisieren. Dennoch befürchtet die Physiotherapeutin, dass „wohl leider einige Praxen auf der Strecke bleiben“, weil derzeit viele geplante Operationen verschoben werden und dadurch auch die Folgebehandlungen zunächst entfallen. Sollte sich diese Prognose bewahrheiten, hätte das wiederum Auswirkungen auf die Zukunft, weil dann eventuell noch längere Wartezeiten auf Termine drohen, als es in der Vergangenheit bereits der Fall war.

Sorgen bereitet der Expertin auch, dass viele Berufstätige im Homeoffice auf alten Bürostühlen oder vielleicht sogar am Esstisch sitzen. Dass zudem die Sportangebote der Vereine pausieren und Fitnessstudios geschlossen sind, „wird sich bei vielen Menschen bald schon körperlich bemerkbar machen“, prophezeit Sabine Winkler.

Ulrike Gallmann vom Therapiezentrum am Markt in Murrhardt macht sich unter anderem Gedanken um die vielen Patienten in den Seniorenheimen, die sie mit ihrem Team in normalen Zeiten vor Ort betreut. „Das ist derzeit natürlich komplett tabu“, sagt sie. Ohnehin seien die Hausbesuche „ein großer Teil, der uns weggebrochen ist“. Die Physiotherapeutin aus der Walterichstadt kann auch ein Lied davon singen, wie schwierig es längere Zeit war, an genug Desinfektionsmittel und Masken zu kommen, „erst seit ein paar Tagen ist es wieder etwas einfacher“. Das ist zumindest eine gute Nachricht, um die unverzichtbare Hygiene gewährleisten zu können. Auf ihrer Homepage weist Gallmann explizit darauf hin, bei Erkältungssymptomen den Termin telefonisch abzusagen, „aber mittlerweile weiß das eigentlich jeder“. Trotzdem kann es sicher nichts schaden, solche Selbstverständlichkeiten in diesen Tagen immer wieder in Erinnerung zu rufen.

Hintergrund

Was in Coronazeiten erlaubt und was fürs Erste verboten ist, was geöffnet haben darf und was derzeit geschlossen bleiben muss, regelt eine Rechtsverordnung der baden-württembergischen Landesregierung, die bereits ein paarmal angepasst wurde.

Die Verordnung geht sehr ins Detail, wie im Gesundheitsbereich deutlich zu erkennen ist. Zu den Einrichtungen, die ihre Türen offen halten dürfen, und zu den Dienstleistungen, die weiterhin erbracht werden dürfen, zählen Apotheken, Ärzte und Augenoptiker, Gesundheitsdienstleistungen und medizinische Behandlungen (auch mobil, Tätigkeiten der Gesundheitsversorgungen nach SGB V und SGB XI oder Assistenzleistungen nach SGB IX sowie Massagepraxen mit Kassenzulassung, Physiotherapeuten und Heilpraktiker), Hörgeräteakustiker, die medizinische Zweithaarversorgung, Personal Trainer, Ernährungsberater und ähnliche Dienstleister in Einzelberatung, Sanitätshäuser sowie Tiergesundheitsdienstleistungen (zum Beispiel Physiotherapie und Veterinär).

Die medizinische Fußpflege in stationärer und mobiler Form ist ebenfalls gestattet, untersagt ist dagegen die kosmetische Fußpflege. Anders als Massagepraxen mit Kassenzulassung sind Massagestudios ohne diese Voraussetzung derzeit geschlossen.

Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und weitere Heilmittelerbringer dürfen darauf hoffen, in Kürze auch unter den staatlichen Rettungsschirm für das Gesundheitswesen schlüpfen zu können. Geplant ist seitens der Regierung wohl, ihnen für einen Zeitraum von drei Monaten eine einmalige Ausgleichszahlung von 40 Prozent der Vergütung zu gewähren, die die Betroffenen im vierten Quartal 2019 von der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten haben.

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Erstellt:
22. April 2020, 06:00 Uhr

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