Impfpflicht: Noch kein Bußgeldverfahren im Rems-Murr-Kreis

Nach 100 Tagen der Impfpflicht im Pflege- und Gesundheitswesen ebbt die Kritik daran nicht ab. Der bürokratische Aufwand sei immens und eine allgemeine Impfpflicht wäre gerechter gewesen, heißt es. Eine Kündigungswelle ist ausgeblieben. In Nachbarkreisen werden Bußgelder verlangt.

Ein Mitarbeiter wird Ende 2020 im Alten- und Pflegeheim Staigacker in Backnang gegen Covid-19 geimpft. Archivfoto: Jörg Fiedler

© Jörg Fiedler

Ein Mitarbeiter wird Ende 2020 im Alten- und Pflegeheim Staigacker in Backnang gegen Covid-19 geimpft. Archivfoto: Jörg Fiedler

Von Florian Muhl

Rems-Murr. Der Tenor ist immer derselbe: Wenn schon eine Impfpflicht, dann für jeden, nicht nur für bestimmte Berufsgruppen; das wäre gerechter gewesen. Diese Einstellung äußerten zahlreiche Träger von Einrichtungen im Pflege- und Gesundheitswesen bereits vor gut 100 Tagen, als die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Deutschland eingeführt wurde. An ihrer Meinung hat sich seither auch nichts geändert, sie äußern sich auch heute noch so.

Zudem ist der bürokratische Aufwand, der von den Betreibern von Heimen, Kliniken und Ämtern zusätzlich zu bewältigen ist, immens. Im Gesundheitsamt sind drei Vollzeitstellen mit der Umsetzung der Aufgaben zur Impfpflicht befasst. Eine juristische Kollegin befindet sich in Einstellung. Gleichzeitig bewirken die seit Anfang Juni ansteigenden Infektionszahlen einen höheren Personalbedarf an anderen Stellen des Gesundheitsamts. Der vergleichsweise geringe Nutzen der Impfpflicht steht nicht im Verhältnis zum hohen Aufwand, der für ihre Durchsetzung betrieben werden muss. Dieses Argument ist oft zu hören.

Eine Kündigungswelle, die Mitte März befürchtet worden war, als die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Kraft trat, ist zwar ausgeblieben. „Die Anzahl der dem Gesundheitsamt bekannten Kündigungen liegt im unteren zweistelligen Bereich“, heißt es aus dem Landratsamt. Aber es werden vermehrt auch Krankschreibungen von nicht geimpften Pflegekräften seit Mitte März beobachtet. In Baden-Württemberg laufen derzeit mehr als 450 Bußgeldverfahren gegen Personen, die trotz behördlicher Aufforderung im Rahmen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht noch keinen Immunitätsnachweis vorgelegt haben. Das Land rechnet mit weiteren Bußgeldverfahren. Im Rems-Murr-Kreis wurden bislang weder Bußgelder verhängt noch Betretungs- oder Tätigkeitsverbote ausgesprochen.

In der angespannten Personalsituation tut jede Kündigung weh

Die Impfquote der insgesamt 940 Mitarbeiter im Alexander-Stift, die in sechs Landkreisen beschäftigt sind, liegt bei aktuell rund 95 Prozent, bei den Bewohnern bei 98 Prozent. Einzelne Kündigungen von Mitarbeitern, die sich nicht impfen lassen wollten, habe es gegeben. „Das waren zwar nicht viele, aber in unserer angespannten Personalsituation tut uns das trotzdem weh“, sagt Steffen Wilhelm, Pressesprecher des Alexander-Stifts.

Wilhelm wisse zwar nicht, ob die Gesundheitsämter tatsächlich Betätigungsverbote aussprechen werden. „Aber allein die Art der Umsetzung mit lange Zeit unklaren Vorgaben und großem bürokratischen Aufwand hat bei uns schon für viel Unmut und Verunsicherung gesorgt“, so Wilhelm. Und wenn Betätigungsverbote kommen? „Dann wäre das eine weitere Verschärfung der ohnehin schon sehr angespannten Personalsituation bei uns“, sagt der Pressesprecher. „Nach mittlerweile zweieinhalb Jahren Pandemiezeit sind unsere Mitarbeiter sehr erschöpft.“ Von einzelnen Mitarbeitern weiß er, dass sie vom jeweils zuständigen Gesundheitsamt schon Bescheide erhalten haben, in denen Bußgeld angedroht wird, in einem Landkreis 200 Euro, in einem anderen Landkreis 2500 Euro.

Bei der Einführung der Impfpflicht hatte die stellvertretende Geschäftsführerin des Alten- und Pflegeheims Staigacker die Befürchtung, dass Pflegekräfte ihrem Beruf den Rücken kehren könnten. Doch es gab nur eine einzige Kündigung einer Beschäftigten. „Und die konnte ich ihr zum Glück ausreden“, sagt Sabine Laible. Von den 30 bis 35 Mitarbeitern in den Backnanger Häusern hätten sich zwei nach der Aufforderung noch impfen lassen. Alle Pflegekräfte, ob geimpft oder nicht, werden arbeitstäglich getestet. Die stellvertretende Geschäftsführerin will auf keinen einzigen Beschäftigten verzichten müssen, denn es gebe einen Mangel an Pflegekräften und alle ihre Mitarbeiter seien sehr gut.

„Wir haben eine sehr hohe Impfquote bei unseren 520 Mitarbeitern“, sagt Yvette Umbach, Geschäftsführerin von Haus Elim. Diese habe bereits vor Einführung der Impfpflicht 98 Prozent betragen. Zur Zahlung eines Bußgelds sei noch keiner ihrer Beschäftigten aufgefordert worden. Wichtig seien ihr die vielen Aufklärungsgespräche an den neun Standorten gewesen, in die auch die Betriebsärztin intensiv mit eingebunden gewesen sei.

Von Kündigungen hat der Vorstand der Erlacher-Höhe Wolfgang Sartorius in seinen Häusern noch nichts vernommen. „Aber es gibt Krankschreibungen.“ Teilweise würden Beschäftigte seit der Einführung der berufsbezogenen Impfpflicht fehlen. Das belaste die bereits sehr angespannte Personalsituation extrem. Sartorius findet es höchst ungerecht, wenn das Schützen von Alten und chronisch Kranken sowie sonst gefährdeten Personengruppen allein auf dem Rücken von bestimmten Berufsgruppen ausgetragen werden soll.

In den Rems-Murr-Kliniken steigt die Impfquote an und liegt aktuell bei 93 Prozent, teilt Klinikensprecherin Meyse Hinderer mit. Bereits vor Inkrafttreten der Impfpflicht sei es vereinzelt zu Kündigungen gekommen. Ob sich Beschäftigte nachträglich haben impfen lassen, weiß Hinderer nicht: „In diese Abläufe sind wir nicht involviert. Nach Meldung der Betroffenen an die Behörden erfolgt die weitere Abwicklung zwischen Gesundheitsamt und Betroffenen.“

„Die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht war ein richtiger und wichtiger Schritt.“ Diese Meinung vertritt Richard Sigel. Der Landrat bedauert aber, „dass die Politik sich dann nicht auf eine ganzheitliche Regelung einigen konnte“. Die Impfpflicht für einzelne Berufsgruppen lasse sich nur schwer umsetzen. „Ehrlicher und zielführender wäre gewesen, von vorneherein eine allgemeine Impfpflicht einzuführen“, so Sigel weiter.

Nach Einschätzung des Rems-Murr-Landratsamts sei es sicherlich noch zu früh, um Bilanz zu ziehen. Aber: „Die Gesamtzahl gemeldeter Personen ohne vollständigen Impfschutz hat sich um 15 Prozent verringert“, so Landratsamtssprecherin Leonie Graf. Zudem würden sich nach Ablauf der auf 90 Tage begrenzten Gültigkeit nachgereichter 179 Genesenennachweise voraussichtlich weitere Personen für ein Nachholen der Impfserie entscheiden. „Auch die zum 1. Oktober verschärften Bedingungen zur Erfüllung eines vollständigen Impfschutzes werden voraussichtlich die Impfquote ansteigen lassen“, so Graf.

Anhörungen zu einem möglichen Betretungs- oder Tätigkeitsverbot sind im Gesundheitsamt in Vorbereitung

Kein Nachweis Dem Gesundheitsamt wurden bisher aus allen Rems-Murr-Einrichtungen insgesamt 1311 Beschäftigte „ohne Nachweis über Immunität oder medizinische Kontraindikation“ beziehungsweise mit „zweifelhaftem Nachweis“ gemeldet.

Nachgereicht Von den 1311 Personen haben nach Aufforderung durch das Gesundheitsamt 370 einen gültigen Nachweis nachgereicht, 191 Leute einen Impfnachweis und 179 Beschäftigte einen Genesenennachweis.

Kontraindikation Von den 1311 Personen haben 50 einen Beleg eingereicht, der belegen soll, dass sie aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können (medizinische Kontraindikation)

Sonstige Begründung Von den 1311 Personen haben 281 sonstige Begründungen eingereicht, warum sie keine Nachweise vorlegen können. Die Begründungen wurden durch das Gesundheitsamt hinsichtlich Aussetzung des Bußgeldverfahrens geprüft.

Prüfung Das Gesundheitsamt muss nun alle Nachweise bezüglich der Kontraindikation aus ärztlicher Sicht prüfen. Bleiben Zweifel an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des Nachweises bestehen, kann das Gesundheitsamt eine ärztliche Untersuchung dazu anordnen, ob die betroffene Person aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus geimpft werden kann.

Weitere Schritte Das Gesundheitsamt wird dann – auf Grundlage erfolgter Einzelfallprüfung – Bußgelder wegen des Verstoßes gegen die Nachweispflicht verhängen. Bisher wurden keine Bußgelder verhängt.

Zudem könnten – ebenfalls nach Anhörung – Betretungs- beziehungsweise Tätigkeitsverbote ausgesprochen werden. Bisher wurden keine Betretungsverbote ausgesprochen. Die Anhörungen der betroffenen Person zu einem möglichen Betretungs- oder Tätigkeitsverbot sind im Gesundheitsamt in Vorbereitung. (Alle Angaben vom Landratsamt Rems-Murr-Kreis Stand 22. Juni 2022.)

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Erstellt:
2. Juli 2022, 06:00 Uhr

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