Stadt setzt auf Deeskalation

An den vier vergangenen Montagen haben sich in Backnang Hunderte Menschen getroffen, um gegen die Coronamaßnahmen zu protestieren. Bei ihren „Spaziergängen“ gefährdeten sie auch die Gesundheit Unbeteiligter. Welche Möglichkeiten hat die Stadt, dagegen vorzugehen?

Bei dem „Spaziergang“ am 27. Dezember gingen um die 1000 Menschen durch die Backnanger Innenstadt.  Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Bei dem „Spaziergang“ am 27. Dezember gingen um die 1000 Menschen durch die Backnanger Innenstadt. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

Backnang. Am Montag, 6. Dezember, dem Nikolaustag, trafen sich in Backnang zum ersten Mal Gegner von Coronamaßnahmen zu einem sogenannten „Spaziergang“. Um die 20 Personen sammelten sich gegen 18.30 Uhr am Obstmarkt und zogen von dort aus durch die Innenstadt. Schon beim zweiten Treffen, eine Woche später, kamen ungefähr zehnmal so viele zusammen. Am 20. Dezember sollen es der Polizei zufolge rund 500 gewesen sein (wir berichteten).

Die „Spaziergänge“ waren nicht bei der Stadt angezeigt worden. Deshalb – und weil die Teilnehmer die Hygieneregeln nicht beachteten und dadurch sich und andere gefährdeten – sah sich die Stadtverwaltung gezwungen, unangekündigte Versammlungen zu untersagen. Nichtsdestotrotz kamen eine Woche später sogar 1000 Menschen zu einem weiteren „Spaziergang“ zusammen. Auch dieser war nicht angemeldet. Zu Beginn und während des Demonstrationszugs forderte die Polizei die Anwesenden per Lautsprecher dazu auf, sich Masken anzuziehen und sich nach Hause zu begeben. Mit einzelnen Personen, die sich frühzeitig am Obstmarkt eingefunden hatten, kamen die Beamten ins Gespräch. Doch weder das eine noch das andere zeigte Wirkung. Die selbst ernannten „Coronagegner“ zogen weitgehend ungestört durch die Stadt.

Über Messenger-Dienste wie Telegram vernetzen sich die „Spaziergänger“

Viele hatten sich zuvor in den sozialen Medien oder auf Messenger-Diensten wie Telegram darüber ausgetauscht, wie sie am besten vorgehen sollten. Deshalb waren so gut wie keine Protestschilder zu sehen, wie sie bei Demonstrationen sonst üblich sind. Die Teilnehmer kamen auch erst auf die sprichwörtliche letzte Minute aus allen Richtungen zusammen. Das erschwerte es der Polizei, den Überblick zu behalten und die Versammlung rasch aufzulösen. Einige Demonstranten hatten Einkaufstaschen dabei, um gegebenenfalls vorzutäuschen, dass nicht der „Spaziergang“, sondern ein abendlicher Einkauf der Anlass ihres Stadtaufenthalts sei.

Schon am 2. Dezember war über einen öffentlich zugänglichen Telegram-Kanal zu einem „Spaziergang mit Kerze“ aufgerufen worden: „Treffpunkt Brunnen am Rathaus/ Fussgängerzone“, so die Nachricht einer Telegram-Nutzerin. „Warme Kleidung sehr empfehlenswert. Auch heisser Tee“, schrieb eine andere am Tag des ersten „Spaziergangs“ in Backnang. Auch in vielen anderen Städten und Gemeinden Baden-Württembergs, von Aalen über Schwäbisch-Gmünd bis zu Weissach im Tal, wurden über Telegram „Spaziergänge“angekündigt.

Viele, die geimpft oder genesen sind und die sich seit Beginn der Coronapandemie an Hygienemaßnahmen halten, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern, fragen sich in Anbetracht dessen: Kann die Stadt beziehungsweise die Polizei nichts tun, um solche „Spaziergänge“ zu unterbinden?

Die Stadtverwaltung, erklärt Rechts- und Ordnungsamtsleiterin Gisela Blumer, habe ihr rechtliches Instrument ausgeschöpft: „Wir haben die Versammlung von vornherein untersagt, sodass es allen Beteiligten klar ist, dass das Treffen nicht zulässig ist.“ An den Abenden der „Spaziergänge“ selbst habe die Polizei von Anfang an auf das Versammlungsverbot sowie auf die strafgesetzlichen Bestimmungen hingewiesen: Denn jeder, der an einer solchen unangemeldeten Versammlung teilnimmt, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Zudem habe die Polizei fotografiert und gefilmt, sagt Blumer: „Alle, die hier zugange waren, müssen damit rechnen, dass – sobald sie identifiziert werden – rechtliche Verfahren auf sie zukommen werden.“

Dass die Polizei die Versammlung nicht einfach aufgelöst hat, liegt ihr zufolge an der Gesamtabwägung: „Bei einem solchen großen Polizeieinsatz ist auch zu berücksichtigen, dass die beteiligten Personen friedlich aufgetreten sind“, sagt Gisela Blumer. Es gelte stets der Deeskalationsgrundsatz, sagt auch Holger Bienert, Sprecher des Polizeipräsidiums Aalen. „Eine Auflösung“, erklärt er, „ginge nur mit massivem Einsatz und harten Maßnahmen.“ Am Ende sei es auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit: „Wenn Sie zu schnell fahren, verlieren Sie auch nicht gleich den Führerschein.“

Es nicht zu einer Gewaltausschreitung kommen zu lassen, ist also die Priorität der Stadt. „Wenngleich es unbefriedigend ist, dass die Personen ohne Maske durch die Straßen laufen und damit auch Unbeteiligte tangieren“, sagt Rechts- und Ordnungsamtsleiterin Gisela Blumer. „Das ist eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die ich nicht schönreden möchte. Deswegen wird sie auch geahndet.“

Rechtlich gesehen könnte die Polizei unmittelbar Zwang anwenden

Sollte sich durch das Vorgehen jedoch an der Situation nichts ändern, sieht die Stadtverwaltung durchaus die Möglichkeit, die Maßnahmen zu verschärfen. In der Allgemeinverfügung, die erlassen wurde, sei bereits Zwang angedroht worden, so Gisela Blumer: „Die Polizei kann, wenn sie das einsatztechnisch für geboten erachtet, unmittelbaren Zwang anwenden. Das ist rechtlich möglich.“

Noch versucht die Stadtverwaltung aber, auf die Vernunft der „Spaziergänger“ zu setzen. „Wir setzen auf die demokratischen Spielregeln, die es natürlich einzuhalten gilt“, sagt Blumer. Denn die „Spaziergänge“ wären nicht illegal, wenn sie von einer verantwortlichen Person im Vorfeld bei der Stadt angezeigt und sich bei dem Rundgang alle an die Hygieneregeln halten würden – Masken tragen und Abstände einhalten.

Es gehe nicht um die Untersagung einer Versammlung, betont die Amtsleiterin noch einmal, sondern um die rechtmäßige Durchführung dieser Versammlung. „Die Versammlungsfreiheit ist ein schützenswertes Gut“, sagt Gisela Blumer. „Man muss sich allerdings bei dieser Meinungsbekundung an die Spielregeln halten. Und in einer Pandemie sind das einfach die vor einer Infektion schützenden Maßnahmen.“

Nach Auswertung der sozialen Medien gehen die Stadtverwaltung und die Polizei momentan davon aus, dass es in den nächsten Wochen zu weiteren „Spaziergängen“ kommen wird. Die Verantwortlichen sind darauf vorbereitet, die Maßnahmen stufenweise anzupassen.

„Die Versammlungsfreiheit
ist ein schützenswertes Gut.
Man muss sich allerdings
an die Spielregeln halten.“ Gisela Blumer (Rechts- und Ordnungsamt)
über die Rechtsgrundlage der „Spaziergänge“

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Erstellt:
3. Januar 2022, 06:00 Uhr

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