Statt Pausenhof drei Stunden am Telefon

Kinder und Jugendliche im Raum Backnang gehen mit der schulfreien Zeit ganz unterschiedlich um

Seit 17. März sind in Baden-Württemberg die meisten Schulen und Kindertageseinrichtungen geschlossen. Am letzten Montag durften die ersten Schüler – unter erheblichem hygienischen Aufwand und mit einiger medialer Aufmerksamkeit – wieder in die Schule. Die weitaus meisten aber sind nach wie vor zu Hause – Homeschooling für Kinder, Eltern und Lehrer ist nach wie vor die Norm. Für sie ist alles weiterhin offen.

Mutter und Tochter bei den Schulaufgaben. Das kann, muss aber nicht immer gut gehen. Eines eint jedoch fast alle Schüler: Sie vermissen ihre Klassenkameraden. Foto: Imago/JenkoAtaman

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Mutter und Tochter bei den Schulaufgaben. Das kann, muss aber nicht immer gut gehen. Eines eint jedoch fast alle Schüler: Sie vermissen ihre Klassenkameraden. Foto: Imago/JenkoAtaman

Von Renate Schweizer

BACKNANG. Die Erwachsenen reden sich die Köpfe heiß über Bildungsgerechtigkeit, Infektionsschutz und Notbetreuung. Wie es dabei den Kindern und Jugendlichen daheim wohl so geht?

Am härtesten trifft es vielleicht die Kleinsten: „Am Anfang haben sie jeden Tag gefragt, wann sie denn wieder in den Kindergarten dürfen“, erzählt eine Mama von zwei kleinen Töchtern. „Inzwischen fragen sie nicht mehr. Inzwischen sind sie einfach bloß traurig. Einmal ist ein Kindergartenfreund am Gartentor vorbeigelaufen – das war ganz schlimm, weil sie nicht miteinander spielen durften.“ Der Kindergarten schickt tatsächlich auch Aufgaben, Bastelanregungen und Ideen. In der letzten Woche haben die Kinder eine Löwenzahnforschungsstation gebaut. „Das war schön“, sagt die Mama – trotzdem ist der Kindergarten in weite Ferne gerückt. Die Eltern würden gerne Notgruppen selbst organisieren mit immer den gleichen Kindern, wenigstens zwei oder drei. „Aber das geht erst, wenn es offiziell erlaubt ist. Schon wegen der Nachbarn.“

Die Brüder Tom und Jona (alle Namen geändert) gehen schon in die Grundschule und stecken es leichter weg. „Immer daheim ist manchmal anstrengend“, sagt Jona, „aber manchmal ist es auch gut. Und morgens kann ich schlafen, bis ich von alleine aufwache.“ Der Zweitklässler bekommt seine Aufgaben als Paket auf Papier. „Ich hab nicht immer Lust, die Aufgaben zu machen, und wenn ich es nicht kapiere, überblättere ich das einfach. Weil manchmal will ich auch was anderes machen.“ Skypen zum Beispiel mit den Freunden – er kann das und ist hörbar stolz darauf.

Jona bekommt seine Hausaufgaben als Paket zugeschickt

Der große Bruder, 4. Klasse, bekommt seine Aufgaben per E-Mail und Mama druckt sie aus. Gelegentlich braucht er Hilfe, die gibt’s bei Oma und Opa im Nachbarhaus. „Mama schickt Opa die Aufgaben per E-Mail. Meistens die Matheaufgaben. Und dann kann er mir am Telefon erklären, wie’s geht. Oder wir treffen uns mit zwei Meter Abstand im Garten. Ich bin gut in Mathe“, erklärt Tom selbstbewusst.

Schwieriger ist das für Aylin, die in die 10. Klasse geht und sich auf die Abschlussprüfung der Realschule vorbereitet. „Mathe war schon vorher schwierig für mich. Die Lehrer sagen, man soll sich melden, wenn man was nicht versteht. Aber das mach ich nicht so gerne. Lieber ruf ich dann eine Freundin an.“ Die Freundinnen, ja, die sind wichtig.

Karla hat ihre seit sechs Wochen nicht mehr getroffen – das gab’s noch nie. Aber das kann man ausgleichen, erzählt sie. Dann telefoniert man halt mal drei Stunden am Stück. Schlimmer war für sie, dass die Stadtbücherei fünf Wochen geschlossen hatte. Jetzt hat die Bücherei wieder offen, eingeschränkt, aber immerhin. Die Eisdiele auch. So kann sie es noch eine Weile aushalten. Und weil sie in die 7. Klasse geht, wo keine Prüfungen drohen, wird sie das wohl auch müssen. Ihr großer Bruder hat die Schule vorübergehend mehr oder weniger aufgegeben. Der schwingt sich morgens aufs Fahrrad. „100 Kilometer schafft der locker am Tag, oft auch mehr.“ Bis zum Abi ist ja gefühlt noch jede Menge Zeit für den Elftklässler.

Esma ist schlechter dran. Sie ist Azubine im zweiten Lehrjahr. Seit die zwei Schultage pro Woche wegfallen, ist sie eben jeden Tag im Betrieb. Die Schulaufgaben kommen per E-Mail und sollen eigentlich während der Arbeitszeit erledigt werden. Das klappt aber selten, dafür ist zu viel zu tun bei der Arbeit. Meistens macht sie sie abends. Klar ist das anstrengend, aber die junge Türkin sieht es gelassen: „Wenn man jung ist, kann man arbeiten“, sagt sie.

Blanca bekommt ihre Aufgaben für jedes Fach und jeden Tag um die Zeit, wo sie sonst Unterricht gehabt hätte. „Das alles alleine zu bearbeiten, dauert viel länger als in der Schule“, erzählt sie. Sie ist in der Kursstufe 1, soll also nächstes Jahr ihr Abitur machen. „Eigentlich hab ich den ganzen Tag nichts anderes gemacht als Schulaufgaben.“ Sie ist richtig froh, dass sie diese Woche wieder zur Schule durfte – kein Wunder.

Das FSJ im Ausland ist nun nicht möglich

Den ganzen Tag Schulaufgaben? Bei Waltraud und ihrer zwölfjährigen Tochter ist das nicht das Problem. Eher: den ganzen Tag Streit um die Schulaufgaben. Jetzt Mathe? Später Mathe? Niemals Mathe? „Wir pubertieren ja.“ Der Seufzer der Mutter ist abgrundtief und das „Wir“ nur zur Hälfte ironisch. „Wir bräuchten so dringend wenigstens gelegentlich Abstand voneinander. Wir müssen doch ab und zu übereinander herziehen können, ohne dass die andere es hört!“ Alleinerziehend – in Coronazeiten gewinnt das Wort eine völlig neue Bedeutung.

Marleen darf auch wieder zur Schule und freut sich sehr darüber. Sie wäre jetzt eigentlich mit dem schriftlichen Abi durch gewesen und hatte sich auf die gechillte Zeit bis zum mündlichen gefreut. Die entfällt jetzt: Das Abitur ist verschoben und danach müssen sie wahrscheinlich sogar noch Klassenarbeiten nachholen. „Schlimmer ist, dass auch der Abiball ausfällt und der Abischerz und die Abitursreise und alles, was daran Spaß gemacht hätte. Und für danach gibt es einfach keinen Plan mehr, keine Perspektive.“ FSJ im Ausland hätte sie gerne gemacht. Ist jetzt hinfällig. Aber das sind Luxusprobleme, das ist ihr auch klar. „In Afrika werden die Menschen hungern, weil sie keine Arbeit mehr haben.“ Irgendwo hat sie den Satz gelesen: „Corona ist deshalb so ein großes Problem, weil auch die Reichen dran sterben.“ Das beschäftigt sie sehr. Die Armen werden nicht an Corona sterben, befürchtet sie, sondern an der Panikreaktion der reichen Länder. „Und bei uns? Meinungsfreiheit abgeschafft, Selbstbestimmung, Versammlungsfreiheit – alles weg – was passiert da grade?“ Marleen hatte viel Zeit zum Nachdenken. „Als wir fürs Klima demonstriert haben, fand’s keiner wichtig genug, um dafür Opfer zu bringen – aber jetzt, bei dem Virus, den die meisten von uns Jugendlichen locker wegstecken würden, da sieht’s doch gleich ganz anders aus.“ Ihr eigenes „Corona-Abi“ ist eigentlich Marleens kleinstes Problem.

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Erstellt:
7. Mai 2020, 06:00 Uhr

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