Wird die Notbetreuung ausgenutzt?

Erzieherinnen in Kindertagesstätten berichten von teils fast vollen Gruppen. Sie sorgen sich um die Ausbreitung des Coronavirus – und um ihre Gesundheit: Einer Studie der AOK zufolge waren Erzieher 2020 besonders oft wegen Covid-19 krankgeschrieben.

Die Notbetreuung wird deutlich stärker in Anspruch genommen als vor Weihnachten. Symbolfoto: Rainer Sturm / pixelio.de

© Rainer Sturm / pixelio.de

Die Notbetreuung wird deutlich stärker in Anspruch genommen als vor Weihnachten. Symbolfoto: Rainer Sturm / pixelio.de

Von Melanie Maier

BACKNANG. „Unverantwortlich“ findet es Bianca Fritz von Eltern, ihre Kinder im Moment in der Kindertagesstätte oder im Kindergarten abzugeben. Die 36-Jährige aus Sulzbach an der Murr ist Erzieherin in der Kita eines privaten Trägers in Stuttgart. Von 19 angemeldeten Kindern sind dort 15 in der Notbetreuung. Zu viele, findet Fritz. „Ich sage nichts, wenn die Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten“, sagt sie. „Die Kinder von Ärzten oder Lehrern – keine Frage, die müssen kommen dürfen.“ Was sie bemängelt, ist, dass auch viele Elternpaare, bei denen beide im Homeoffice oder einer nur in Teilzeit arbeitet, ihren Nachwuchs in die Notbetreuung bringen. „Unter Erziehern bestehen die höchsten Infektionszahlen“, sagt Fritz. „Aber das interessiert keinen.“

Tatsächlich waren einer Erhebung der AOK zufolge Menschen in Erziehungsberufen von März bis Oktober 2020 am häufigsten wegen Covid-19 krankgeschrieben. Die Berufsgruppe war 2,2-mal so häufig im Zusammenhang mit Covid-19 arbeitsunfähig wie der Durchschnitt der bei der Krankenkasse Versicherten; noch häufiger sogar als Beschäftigte im Gesundheitsbereich.

Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen ist es Erziehern zwar freigestellt, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Seit Mai 2020 haben Erzieher der städtischen Kitas die Möglichkeit, FFP2-Masken zu erhalten, so Regine Wüllenweber, die das Amt für Familie, Jugend und Bildung in Backnang leitet. „Darüber hinaus stehen medizinische Masken zur Verfügung.“

Die AHA-Regeln sind im Alltag der Erzieher nur zum Teil umsetzbar.

Doch eine Maske tragen die meisten Erzieherinnen nur, wenn sie Kontakt zu anderen Erwachsenen – beispielsweise Eltern, anderen Erziehern oder Essenslieferanten – haben. Im Umgang mit den Kindern sei das unmöglich, erklärt Fritz, die in der Krippe ausschließlich unter Dreijährige betreut. „Die Kleinen lernen gerade das Sprechen, sie brauchen die Mimik“, sagt sie. Abstand halten sei eine weitere Vorgabe der Geschäftsführung, sagt Fritz, doch ein weinendes Kleinkind nicht auf den Arm oder den Schoß zu nehmen, um es zu beruhigen, sei in der Praxis unrealistisch. Die AHA-Regeln (Abstand halten, Hygiene beachten und Alltagsmaske tragen) sind im Alltag der Erzieher also nur zum Teil umsetzbar.

Erzieherin Bianca Fritz. Foto: B. Fritz

© Bianca Fritz

Erzieherin Bianca Fritz. Foto: B. Fritz

Dazu kommt: Obwohl derzeit nur notbetreut wird, sind die Kita-Gruppen viel voller als während des ersten Lockdowns im Frühjahr. Mehr Kinder bedeuten für Erzieher ein höheres Infektionsrisiko, da sie mit mehr Haushalten in Kontakt kommen. Während des ersten Lockdowns mussten die Eltern genau aufschreiben, an welchen Tagen sie wie lange arbeiten, sagt Fritz. Dementsprechend durften sie ihre Kinder in die Kita bringen. Zudem galt das Angebot nur für Eltern in systemrelevanten Berufen. Im zweiten Lockdown sei das anders. „Jetzt werden Kinder in die Notbetreuung geschickt, auch wenn das gar nicht nötig ist“, meint Fritz. Einen Nachweis, sagt sie, können Eltern sich selbst ausstellen, „ohne dass darin steht, in welchem Umfang oder Bereich sie arbeiten“. Das führe dazu, dass Eltern Kinder auch an Tagen abgeben, an denen sie gar nicht arbeiten.

Vom Kultusministerium Baden-Württemberg heißt es, die überwiegende Mehrheit der Eltern gehe verantwortungsvoll mit der Einschätzung um, ob Notbetreuung für ihre Kinder zwingend erforderlich ist. Doch ist das wirklich so? Ist die Kita, in der Bianca Fritz arbeitet, nur ein Einzelfall? Nach Angaben der Stadt Backnang nehmen derzeit knapp 30 Prozent der angemeldeten Kinder die Notbetreuung in Anspruch. Doch diese verteilen sich wohl sehr ungleichmäßig auf die einzelnen Gruppen. Sie habe von Kitas gehört, in denen die Gruppen zu 70 bis 80 Prozent ausgelastet sind, sagt etwa Sabine Feinauer. Sie leitet die Kindertagesstätte Heininger Weg in Backnang. Die Politik, sagt sie, habe das Risiko für Erzieher „überhaupt nicht im Blick“: „Es gibt bis dato keine wirklich gute Regelung, wie pädagogische Fachkräfte sich schützen können.“ Sollten Kitas, wie von der Landesregierung angekündigt, zum 1. Februar wieder in den Vollbetrieb übergehen, seien die Erzieher „stark gefährdet, sich anzustecken“ – was vielen Angst macht; vor allem, wenn sie selbst Kinder oder pflegebedürftige Eltern haben.

Von der Politik fühlt sich nicht nur Feinauer alleingelassen. Am 4. Januar dieses Jahres haben sich Erzieher aus dem Südwesten zum Verband Kitafachkräfte Baden-Württemberg zusammengeschlossen. Mit offenen Briefen haben sie sich – zuletzt am 20. Januar – an Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), Sozial- und Integrationsminister Manfred Lucha (Grüne) und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) gewandt. In ihnen fordert sie der Verband auf, „pädagogisch sinnvolle Konzepte für eine weitere Öffnung zu entwickeln“.

Dazu gehören den Erziehern zufolge eine Verkleinerung der Kita-Gruppen, die verlässliche Ausstattung der Fachkräfte mit FFP2-Masken, verbindliche Schnelltests in regelmäßigen Abständen für alle am Kita-Alltag Beteiligten sowie die Bereitstellung technischer Geräte, die es unter anderem ermöglichen würden, Teamsitzungen oder Elternabende online abzuhalten. Eine Antwort auf die Briefe hat der Verband bisher nicht erhalten.

Bianca Fritz nutzt seit Anfang Januar die Kinderkrankentage, um ihren fünfjährigen Sohn zu Hause zu betreuen. „Ich sehe nicht ein, dass er jeden Tag mit zehn anderen Haushalten zusammenkommt.“ Ihre Kolleginnen hätten trotz Kurzarbeit zum Glück dafür Verständnis, sagt die Alleinerziehende.

Was Fritz sich wünscht, sind Lösungen von den Politikern und mehr Verständnis und Engagement von den Eltern. Sie könne verstehen, dass auch die Arbeit im Homeoffice anstrengend sei, sagt Fritz: „Aber das Kind in die Notbetreuung zu schicken, um daheim in Ruhe arbeiten zu können, ist in dieser Situation eigentlich nicht mehr möglich.“

Wer darf in die Notbetreuung?

Einen Anspruch auf Notbetreuung haben nach Angaben der Stadt Backnang Kinder, bei denen beide Erziehungsberechtigten beziehungsweise die oder der Alleinerziehende von ihrem Arbeitgeber als unabkömmlich gelten, ein Studium absolvieren oder eine Schule besuchen (sofern sie die Abschlussprüfung im laufenden Jahr anstreben). Dies betreffe sowohl Präsenz- als auch Homeoffice-Arbeitsplätze.

Auch wenn das Kindeswohl dies erfordere oder andere schwerwiegende Gründe vorliegen, sei Notbetreuung möglich – etwa bei Kindern mit besonderem Förderbedarf, pflegebedürftigen Angehörigen, beengten Wohnverhältnissen oder dem ehrenamtlichen Einsatz der Eltern in Hilfsorganisationen, Rettungsdiensten oder Feuerwehren.

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Erstellt:
27. Januar 2021, 06:00 Uhr

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