100 Jahre Betriebsräte - Mitbestimmung auf dem Rückzug?

dpa Düsseldorf. Vor 100 Jahren wurden in Deutschland erstmals Betriebsräte rechtlich verankert, begleitet von heftigen Auseinandersetzungen. Heute sind sie weitgehend unumstritten. Doch immer weniger Beschäftigte werden von Betriebsräten vertreten.

Nur noch 42 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland werden von einem Betriebsrat vertreten. Foto: Christian Charisius/dpa

Nur noch 42 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland werden von einem Betriebsrat vertreten. Foto: Christian Charisius/dpa

Betriebsräte sind in großen Unternehmen die Regel, in kleineren gibt es sie dagegen nur selten. Einen gesetzlichen Anspruch auf diese Form der betrieblichen Interessenvertretung haben die Arbeitnehmer in Deutschland erstmals vor 100 Jahren erhalten.

Am 4. Februar 1920 trat das Betriebsrätegesetz in Kraft trat. Während des Gesetzgebungsverfahrens war es zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, 42 Menschen starben bei einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude durch Schüsse der Sicherheitspolizei. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatten zu der Demonstration aufgerufen. Sie forderten das volle Kontrollrecht der Arbeiter über die Betriebsführung - weit mehr als beschlossen.

In Kraft blieb das Betriebsrätegesetz bis 1934, als die Nationalsozialisten statt Mitbestimmung das Führerprinzip in den Betrieben durchsetzen. Mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 wurden Betriebsräte in der Bundesrepublik gesetzlich verankert. Bis heute gilt: In Firmen mit mindestens fünf Arbeitnehmern kann ein Betriebsrat gewählt werden.

Doch das ist nur in einer Minderheit der Unternehmen der Fall - und der Anteil der Firmen mit Betriebsrat sinkt. „Die betriebliche Mitbestimmung befindet sich seit geraumer Zeit auf dem Rückzug“, heißt es in einer Analyse für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2018.

Nach den jüngsten Zahlen arbeiten in Westdeutschland nur noch 42 Prozent der Beschäftigten in einer Firma mit Betriebsrat, im Osten sind es 35 Prozent. Das sind zwar etwas mehr als ein Jahr zuvor, aber Mitte der 1990er Jahre wurden in den alten Ländern noch 51 Prozent der Beschäftigten von einem Betriebsrat vertreten, in Ostdeutschland waren es damals 43 Prozent. Besonders stark ist der Rückgang in mittelgroßen Betrieben mit 51 bis 500 Beschäftigten.

Blickt man auf Gesamtzahl die Unternehmen, große wie kleine, haben aktuell überhaupt nur 9 bis 10 Prozent von ihnen einen Betriebsrat. Vor allem in Kleinbetrieben gibt es ganz selten einen Betriebsrat. Das liege aber nicht an fehlendem Interesse der Beschäftigten, sagt Norbert Kluge, Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. „Der Rückhalt von Betriebsräten bei den Beschäftigten schwindet nicht. Ganz im Gegenteil.“ Bei den Betriebsratswahlen gebe es eine konstant hohe Beteiligung von etwa 75 Prozent. „Das ist weit höher als bei fast allen politischen Wahlen in Deutschland.“

Ähnlich sieht es Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln: „Wir haben zwei Welten, die Betriebsratswelt der Großbetriebe und die betriebsratsfreie Welt der kleineren Unternehmen.“ Vor allem in inhabergeführten kleinen Betrieben versuchten die Firmenchefs einen großen Bogen um Betriebsräte zu machen. Sie seien „oft der Ansicht, sie könnten alleine besser für das Wohl der Beschäftigten sorgen“.

Dabei arbeiteten beide Seiten gut zusammen. „Wir haben bei einer Unternehmensbefragung im Jahr 2018 festgestellt, dass es bei betrieblichen Entscheidungen in 95 Prozent der Fälle eine einvernehmliche Lösung zwischen Firmenleitung und Betriebsräten gibt“, berichtet Lesch.

Auch bei der Böckler-Stiftung heißt es: „Meistens kommen Betriebsrat und Management in deutschen Unternehmen ganz gut miteinander klar.“ Ganz so positiv wie bei den arbeitgebernahen Forschern in Köln fällt das Urteil aber nicht aus. In einer Betriebsrätebefragung hätten zehn Prozent der Beschäftigtenvertreter das Verhältnis zur Chefetage nur als „ausreichend“ bewertet, weitere fünf Prozent gar als „mangelhaft“. Auch Klagen über die Behinderung der Gründung eines Betriebsrats seien keine Einzelfälle.

Dabei sei der Betriebsrat auch im Interesse der Unternehmensleitung, betont Böckler-Fachmann Kluge. „Dann muss sie nicht mit jedem Einzelnen in Verhandlungen treten.“ Zudem zeigten wissenschaftliche Studien, „dass mitbestimmte Betriebe produktiver sind und widerstandsfähiger in Wirtschaftskrisen“.

Wie geht es mit den Betriebsräten angesichts neuer Arbeitsformen durch die Digitalisierung weiter? Das Wahlrecht zum Betriebsrat sei an ein stabiles Arbeitsverhältnis und an das Vorhandensein eines Betriebs gebunden, sagt Kluge. „Wenn beides durch neue Arbeitsformen ins Rutschen gerät, dann gibt es weniger Ansatzpunkte, einen Betriebsrat zu bilden.“ Hier sei der Gesetzgeber gefordert.

Auch IW-Forscher Lesch sieht Änderungsbedarf: „Man muss überlegen, ob die Definition des Arbeitnehmers im Betriebsverfassungsgesetz noch zu den sich herausbildenden Arbeitsformen wie etwa Crowdworking passt.“ Immer mehr Menschen verdienen als sogenannte Crowdworker mit Mikrojobs im Internet ihr Geld. Sie übernehmen kleine Jobs für Firmen und bieten ihre Dienste über das Internet an. Sie arbeiten über Apps oder Internetplattformen und konkurrieren im Netz um Aufträge.

Die Bundesregierung hat sich Korrekturen vorgenommen. Im Koalitionsvertrag haben sich Union und SPD verständigt, Gründung und Wahl von Betriebsräten zu erleichtern. So soll für alle Betriebe mit bis zu 100 wahlberechtigten Arbeitnehmern ein vereinfachtes Wahlverfahren verpflichtend gemacht werden. Einen Gesetzentwurf will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dieses Jahr vorlegen.

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Erstellt:
3. Februar 2020, 09:26 Uhr

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