Mordfall Nicky - Nach 22 Jahren steht ein Mann vor Gericht

dpa Maastricht. Sommer 1998: Ein Junge wird tot gefunden. Er wurde missbraucht. Jetzt steht der mutmaßliche Täter vor Gericht. Aber er will es nicht gewesen sein - trotz DNA-Spuren. Er hat dafür seine eigene Erklärung.

Berthie (2.v.r) und Peter Verstappen (r.), die Eltern des getöteten Jungen, vor dem Beginn des Prozesses. Foto: Marcel Van Hoorn/ANP/dpa

Berthie (2.v.r) und Peter Verstappen (r.), die Eltern des getöteten Jungen, vor dem Beginn des Prozesses. Foto: Marcel Van Hoorn/ANP/dpa

Es ist ein furchtbares Verbrechen, aber auch ein Fall wie aus einem Thriller: 1998 wird der elf Jahre alte Nicky Verstappen aus einem Zeltlager in der Brunssummerheide zwischen Aachen und Maastricht entführt, sexuell missbraucht und getötet.

Die Polizei tappt lange im Dunkeln, es sieht danach aus, dass der Mord nie aufgeklärt wird. Aber dann werden plötzlich aufgrund modernster Technik DNA-Spuren von der Leiche einem Mann zugeordnet, der schon kurz nach der Tat einmal in den Fokus der Ermittler gerückt war. Seit Montag steht dieser nunmehr 57 Jahre alte Jos B. in der niederländischen Stadt Maastricht vor Gericht.

Das Interesse an dem Prozess ist riesig - es ist einer der Aufsehen erregendsten Kriminalfälle der jüngeren niederländischen Geschichte. Aber auch in Deutschland hatte der Mord an dem Jungen viele Menschen erschüttert.

Gleich zu Beginn des Prozesses brach der Angeklagte am Montag sein Schweigen. Bisher hatte er lediglich bestritten, für die Tat verantwortlich zu sein. Jetzt wurde dem Gericht ein Video vorgespielt, das er vorab in seiner Zelle aufgenommen hatte. Seine Aussage: Er habe Nicky am Tag nach der Tat leblos in einem Waldstück in der Heide gefunden.

„Er war gestorben“, sagte er. Weil er überprüft habe, ob der Junge noch atmete und ob man bei ihm noch den Puls fühlen konnte, habe er ihn umgedreht und dadurch berührt. Als er gemerkt habe, dass er tot gewesen sei, habe er sich aus dem Staub gemacht. Zur Polizei hätte er nicht gehen könnten, denn: „Wer würde mir glauben? Ich hatte eine Vergangenheit.“ Schon 1985 war er wegen sexueller Belästigung zweier Jungen verfolgt, aber nicht verurteilt worden.

Nach niederländischen Medienberichten wurden insgesamt 27 DNA-Spuren auf Nickys Leiche gefunden, die mit der DNA von Jos B. übereinstimmen - darunter solche aus der Unterhose des Jungen. Die Verteidigung versucht jedoch, diesen Befund zu entkräften. Es handele sich nicht um Sperma- oder Blutspuren, sagt der Anwalt. DNA von Jos B. könne auch auf andere Weise auf den Körper gelangt sein. Es sei zum Beispiel denkbar, dass der Mann - der in jenem Sommer oft in der Heide herumradelte - auf dem Zeltplatz zur Toilette gegangen sei, sich dort die Hände abgetrocknet habe und dann Nicky zufällig als nächstes hereingekommen sei und das Handtuch benutzt habe.

Jos B. war vor zwei Jahren in Spanien festgenommen und an die Niederlande ausgeliefert worden. Seitdem sitzt er in U-Haft. Schon kurz nach der Tat war er in den Fokus der Ermittler geraten, weil er mitten in der Nacht in der Nähe des Fundorts der Leiche herumlief. Im vergangenen Jahr kehrte er in Polizeibegleitung dorthin zurück: Zusammen mit den Richtern, den Staatsanwälten, Verteidigern und den Eltern von Nicky nahm er an einer Tatortbegehung teil.

Für die kommenden drei Wochen wird in Maastricht ein komplizierter Indizienprozess erwartet. Es geht um die Frage, ob die Richter die DNA-Spuren für ausreichend halten, um den Angeklagten entgegen seinen Beteuerungen zu verurteilen. Das ist nach Einschätzung von Experten bei weitem nicht so sicher, wie es dem Laien erscheinen mag. So sagte der Rechtspsychologe Peter van Koppen der Zeitung „De Volkskrant“, ein alternatives Szenario für den Tod des Jungen könne möglicherweise nicht ausgeschlossen werden. Denkbar sei zum Beispiel, dass B. Nicky zusammen mit einem anderen Mann missbraucht habe und der andere Mann den Jungen dann mitgenommen und getötet habe. In dem Fall müsste B. freigesprochen werden, weil der Missbrauch verjährt sei.

© dpa-infocom, dpa:200928-99-739434/4

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Erstellt:
28. September 2020, 11:59 Uhr

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