Abschiednehmen in Coronazeiten

In Kliniken, im Hospiz oder in den Bestattungsinstituten gelten aufgrund der Coronapandemie besondere Vorkehrungen. Doch die Bedeutung des Schutzes vor Ansteckung ist relativ, manchmal ist die Anwesenheit eines geliebten Menschen einfach Pflicht.

Am morgigen Totensonntag gedenken viele Angehörige ihrer Verstorbenen. Der Gang zum Friedhof ist ein schönes und wichtiges Ritual.Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Becher

Am morgigen Totensonntag gedenken viele Angehörige ihrer Verstorbenen. Der Gang zum Friedhof ist ein schönes und wichtiges Ritual.Foto: A. Becher

Von Matthias Nothstein

BACKNANG. Gerade im Jahr der Coronapandemie ist vielen Menschen sehr deutlich bewusst geworden, wie wichtig in existenziell entscheidenden Lebensphasen menschliche Nähe ist. Ganz besonders gilt dies für den Umgang mit Sterbenden. An diesem Wochenende begehen die Christen den Totensonntag, an dem sie ihrer Verstorbenen gedenken. Aber wie verhält es sich mit dem Sterben in Coronazeiten? Wie gehen die Verantwortlichen in den Krankenhäusern oder im Hospiz damit um, wie die Bestattungsunternehmen?

Martin Stierand ist einer der Krankenhausseelsorger am Rems-Murr-Klinikum Winnenden. Welche Erfahrungen bei der Sterbe- und Trauerbegleitung er gemacht hat, schildert er an eindrücklichen Beispielen. So kam er dieser Tage auf dem Weg zu einem Patientenbesuch am „Vorfluter“ im Eingangsbereich vorbei. Dort werden die Besucher auf ihre Zugangsberechtigung gecheckt. Eine Mitarbeiterin kämpfte ganz offensichtlich mit einem großen Dilemma. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, wollen unbedingt zu ihrem Vater beziehungsweise Ehemann, der über die Notaufnahme aktuell eingeliefert wurde. Er sei Palliativpatient, der seinem Ende sowieso schon entgegensähe. Die Ehefrau zitterte. Stierand versprach: „Ich bleibe jetzt bei Ihnen und schaue, dass wir einen Weg finden.“ Die Haus-Regeln war aufgrund der Pandemie nochmals deutlich verschärft worden. Sie sehen den Zugang zur Notaufnahme nur im Ausnahmefall vor und dann auch nicht für zwei Besucher. Dem Seelsorger war klar, dass die Ehefrau nervlich am Ende war und diesen Weg nur an der Hand ihrer Tochter gehen konnte. In Rücksprache mit dem behandelnden Arzt und nach dem Anlegen der Schutzkleidung und Masken wurde den dreien der Zugang gewährt. Stierand: „Ich werde nicht vergessen, was sich dann abspielte und wie absolut richtig und angemessen diese Zusammenführung war. Allein der Blick des Mannes. Seine rechte Hand lag in der der Ehefrau, seine linke in der der Tochter. Ganz langsam wurde er ruhiger.“ Der anfangs verwirrte Zustand des Mannes besserte sich so weit, dass er die Patientenverfügung ansprach und erklärte, er würde gerne zu Hause sterben. Er wurde medikamentös versorgt nach Hause gebracht, wo er Tage später starb, so, wie er es wollte. Der Seelsorger bedankte sich später bei allen beteiligten Mitarbeitern im Klinikum.

Das große Vertrauen, dass die Seelsorger im Klinikum bei den Ärzten und Pflegekräften genießen, trägt sie auch in der Coronakrise, sodass eine gute Fortsetzung eines eingeübten Handelns auch unter Pandemiebedingungen möglich ist. Pflege und Ärzte erkennen bei vielen Erkrankungen meist rechtzeitig, wenn ein Patient in eine kritische Phase kommt. Sie informieren dann die Angehörigen und, wenn diese dies wünschen, auch die Krankenhausseelsorger.

Innerhalb des Klinikums kommt es, wenn die Angehörigen einen Sterbenden besuchen möchten, darauf an, in welcher Abteilung dieser liegt. Ein Besuch ist möglich, unterliegt aber den Bedingungen, die für die jeweilige Abteilung gelten. So ist zu unterscheiden zwischen Notaufnahme, Intensivstation, „Normal“-Station oder Covid-19-Intensivstation.

Zurzeit ist nur ein Besuch in besonders dringenden Fällen, zu denen ja das Sterben gehören, möglich. In jedem Fall ist angeraten, den Besuch vorher telefonisch zu vereinbaren und es ist damit zu rechnen, dass nur Einzelpersonen eine Zugangsberechtigung bekommen. Stierands Fazit: „Ich bin dankbar dafür, dass ich hier im Klinikum ein gutes Miteinander erleben darf, das die Waage zwischen nachvollziehbaren Verordnungen und gelebter Menschlichkeit zulässt.“

In der Hospiz- und Palliativarbeit sind Kontaktbeschränkungen ein besonders sensibles Thema. Heinz Franke, Geschäftsführer der Hospizstiftung Rems-Murr, betont: „Sterbenden Menschen am Lebensende den Kontakt mit nahestehenden, vertrauten Personen – und umgekehrt – zu untersagen, wäre für mich ein nicht hinnehmbarer Verstoß gegen den Artikel 1 des Grundgesetzes. Dort heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dies gilt für Franke ganz besonders am Lebensende. Deshalb kann es im Hospiz auch keine absolute Kontaktbeschränkung geben, obwohl dies beim ersten Lockdown im Frühjahr andernorts teilweise der Fall war. Unter Beachtung der notwendigen Schutzmaßnahmen war und ist ein regelmäßiger Besuch laut Franke für die Hospizgäste möglich und auch gewünscht. Im Backnanger Haus wird folgende Regelung praktiziert: Pro Tag dürfen zwei Besucher kommen, insgesamt grundsätzlich sechs erwachsene Personen und Kinder. Franke geht noch weiter: „Und im Sterben unserer Hospizgäste werden wir nahestehenden Menschen und natürlich auch Seelsorgern im letzten Miteinander keine Beschränkungen auferlegen.“ Selbstverständlich werde im Hospiz aus medizinischen und pflegerischen Gründen grundsätzlich und in Coronazeiten ganz besonders auf einen hohen Hygienestandard geachtet – auch aus Verpflichtung gegenüber den unterschiedlichen Mitarbeitern, aber immer im Kontext mit den Belangen der Menschen, die als Gäste am Lebensende ein Recht auf unsere besondere menschliche Fürsorge und Begleitung haben.

Das Coronavirus bedroht laut Manuel Häußer vom gleichnamigen Backnanger Bestattungshaus nicht nur das Leben, sondern auch den Umgang mit dem Tod: „Die Schutzmaßnahmen brechen mit Bestattungsriten, die über Jahrhunderte praktiziert wurden.“ Rituale, ob weltlich oder religiös orientiert, haben laut Häußer immer einen gemeinschaftsstiftenden Charakter. Für Trauernde ist es seiner Ansicht nach von großer Wichtigkeit, von einer Gemeinschaft aufgefangen und getröstet zu werden, auch oder gerade beim Gang zum Grab. Die Situation auf dem Friedhof wahrzunehmen ist wichtig. Auch der Moment, wie der Sarg oder die Urne der Erde übergeben wird, auch wenn dies sehr schmerzhaft ist. Häußer: „Dieses Teilhaben ist wichtig, um zu realisieren: hier gibt es einen endgültigen Abschluss.“

Während des ersten Lockdowns waren die Aussegnungshallen ausnahmslos gesperrt. Die Trauerfeiern mussten alle im Freien stattfinden. Es war stets Häußers Bestreben, dass auch in diesen Zeiten würdevolle Trauerfeiern stattfinden konnten. Er weist darauf hin, dass die Angehörigen, die sich in einem Ausnahmezustand befinden, in großer Mehrheit sehr verständnisvoll auf die Einschränkungen reagiert haben. Das war auch für ihn überraschend, denn die Einschränkungen waren enorm. In der Anfangszeit waren keine öffentliche Trauerfeiern möglich. Zunächst waren zehn Teilnehmer erlaubt. Zu entscheiden, wer kommen darf, war für viele Angehörige eine sehr schwierige Aufgabe. Häußer: „Wir haben in dieser Zeit sehr viel Tragisches erlebt.“ Der Backnanger Bestatter listet einige wenige Beispiele auf: Kinder, die in Quarantäne sind, und deshalb an der Bestattung eines Elternteils nicht teilnehmen können. Oder Angehörige, die im Ausland leben, und nicht einreisen können. Angehörige, die ihren Verstorbenen gerne ein letztes Mal gesehen und sich von ihm verabschiedet hätten, denen die offene Aufbahrung aber verwehrt werden musste.

Die verschiedenen Totengedenktage im November machen es mehr als überdeutlich: Das gemeinsame Gedenken an verstorbene Menschen ist sehr wichtig. Auch und besonders am Totensonntag.

Abschiednehmen in Coronazeiten

© Jörg Fiedler

„Im Klinikum gibt es eine stimmige Balance von Verordnungen und gelebter Menschlichkeit.“

Martin Stierand, Klinikseelsorger Rems-Murr-Klinikum

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Erstellt:
21. November 2020, 06:00 Uhr

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