Missbrauch in der Therapie
„Als wäre ich die Angeklagte“ – Patientin bricht nach Urteil zusammen
Ein früherer Therapeut der Uniklinik Tübingen wird in 53 Fällen wegen sexuellen Missbrauchs auf Bewährung verurteilt. Ein „täterschützendes Urteil“, sagt der Anwalt der Patientin.
© STZN/Dürr, imago/Schöning
Am Landgericht Tübingen (links) fand der Berufungsprozess gegen einen ehemaligen Therapeuten der Tübinger Psychiatrie statt.
Von Florian Dürr
Eine halbe Stunde vor der Urteilsverkündung nutzte die ehemalige Patientin des Angeklagten noch einmal die Möglichkeit, um einen Einblick in ihre Gefühlswelt zu geben: „Ich habe mich in diesem Prozess oft so gefühlt als wäre ich die Angeklagte“, sagte die 37-Jährige am Mittwochabend im Saal 107 des Landgerichts Tübingen. Sie sprach ihren ehemaligen Therapeuten auf der Anklagebank auch direkt an: „Sie stellten die Ereignisse so dar, als hätte ich sie verführt oder sogar missbraucht.“
Um kurz nach 19 Uhr fiel dann das Urteil: Der 63-jährige frühere Arzt des Uniklinikums Tübingen hat seine ehemalige Patientin nach Überzeugung des Gericht in 53 Fällen unter Ausnutzung des Behandlungsverhältnisses sexuell missbraucht. „Das darf nicht passieren, das ist ein No-Go“, machte Richterin Hörmann klar.
Anwalt der Patientin: Urteil „einseitig täterschützend und opferfeindlich“
Doch anders als beim Urteil in erster Instanz, bei dem das Amtsgericht Tübingen den Angeklagten zu zweieinhalb Jahren Haftstrafe verurteilt hatte, muss der Mann laut dem Urteil im Berufungsprozess nicht ins Gefängnis: ein Jahr und neun Monate Freiheitsstrafe, ausgesetzt für zwei Jahre zur Bewährung. Zudem muss der Angeklagte 15.000 Euro an den Verein „Frauen helfen Frauen“ zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, innerhalb einer Woche kann Revision beim Landgericht Tübingen eingereicht werden.
Und das wird auch geschehen, kündigt der Anwalt der Patientin am Donnerstag gegenüber unserer Zeitung an. Das Urteil sei „einseitig täterschützend und opferfeindlich“, schreibt Christian Laue in einer zusammen mit dem Ethikverein verfassten Stellungnahme und listet Punkte auf, die das Gericht seiner Meinung nach „weitgehend unberücksichtigt“ gelassen hat.
Gegenseite hatte Bewährungsstrafe beantragt – mit Erfolg
„53 Fälle des ungeschützten Geschlechtsverkehrs, zum großen Teil im Behandlungszimmer einer besonderen Schutz genießenden Uniklinik, Ausnutzung des besonderen psychotherapeutischen Abhängigkeitsverhältnisses“, dazu komme die „Verursachung einer Schwangerschaft und deren erzwungener Abbruch, erhebliche Langzeitschädigungen des Opfers durch diese Missbrauchstaten“. Das Urteil des Landgerichts Tübingen sei „ein klares Signal an alle Täter: Auch wenn ich noch so schwere Missbrauchstaten im Rahmen der Psychotherapie begehe, mir kann nichts Gravierendes passieren“, so Laue.
Die Gegenseite hingegen kann sich freuen, dass das Gericht die Forderung nach einer Bewährungsstrafe, die ebenso die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, erfüllt hat. Ihr Mandant sei „nicht der gewissenlose Therapeut, der nur seinen Trieben gefolgt ist“, stellte die Verteidigerin des Angeklagten in ihrem Plädoyer klar. Er habe sich mehrfach für seine Taten entschuldigt, sei heute „geächtet“ und „löffelt die Suppe seit Jahren aus“.
Richterin: „Gewisse Liebesbeziehung“ zwischen Therapeut und Patientin
Die Kammer widersprach der Einschätzung von Rechtsanwalt Laue, der zusätzlich auf eine Verurteilung wegen Vergewaltigung für den ersten Geschlechtsverkehr zwischen Therapeut und Patientin Anfang Oktober 2020 plädierte. „Wir sind der Ansicht, dass zu keinem Zeitpunkt Gewalt im Spiel war“, sagte Richterin Hörmann in der Urteilsbegründung.
Viel mehr habe sich eine „gewisse Liebesbeziehung“ zwischen Therapeut und Patientin entwickelt. „Es waren auch Gefühle im Spiel, es ging nicht nur um schnellen Geschlechtsverkehr“, begründete die Richterin. Mit Verweis auf mehrere Zeugen habe die Geschädigte nicht glaubhaft machen können, dass der erste Sex mit ihrem Therapeuten erkennbar gegen ihren Willen geschehen sei.
Patientin: „Sie waren mein Therapeut, mein vermeintlich sicherer Ort“
Für den Angeklagten spreche, dass er die Taten eingeräumt und sich entschuldigt habe. Zudem sei er nicht vorbestraft und selbst in psychiatrischer Behandlung. Die Sozialprognose sei gut. „Aber für beide“, so Hörmann, war der Prozess „eine große Belastung“.
Das zeigte sich auch am Mittwochabend wieder, als die Patientin noch im Gerichtsgebäude zusammenbrach, ein Notarzt gerufen und sie zur stationären Behandlung in die Klinik eingeliefert wurde. „Sie waren mein Therapeut, mein vermeintlich sicherer Ort“, sagte die 37-Jährige kurz vor der Urteilsverkündung in die Richtung ihres ehemaligen Therapeuten – und stellte die Frage: „Wenn ich nicht mal bei meinem Therapeuten sicher bin, wo dann?“
