Alte Straßen, neue Forderungen

Ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe nährt die Hoffnung einiger Bürger von Sachsenweiler. Die Anwohner wehren sich gegen hohe Erschließungsbeiträge, die die Stadt Backnang für Straßen in Rechnung stellt, obwohl diese schon vor Generationen gebaut wurden.

Marode Straßen werden von den Kommunen saniert. Aber wer trägt die Kosten? Wurden noch nie Erschließungsbeiträge erhoben, so können die Städte und Gemeinden auch noch nach Jahren Geld fordern. Aber nicht unendlich lang, sagen die Gerichte. Symbolfoto: Adobe Stock/Peter Atkins

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Marode Straßen werden von den Kommunen saniert. Aber wer trägt die Kosten? Wurden noch nie Erschließungsbeiträge erhoben, so können die Städte und Gemeinden auch noch nach Jahren Geld fordern. Aber nicht unendlich lang, sagen die Gerichte. Symbolfoto: Adobe Stock/Peter Atkins

Von Matthias Nothstein

BACKNANG. Ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe ist bei einigen Bürgern in Sachsenweiler mit großer Freude zur Kenntnis genommen worden. Eine Interessengemeinschaft aus dem Backnanger Stadtteil wehrt sich nämlich seit dem vergangenen Sommer mit einer Musterklage vor demselben Gericht gegen Forderungen der Stadt Backnang (wir berichteten). Die Stadt fordert von den Bürgern nach den jüngsten Straßensanierungen in diesem Gebiet hohe Erschließungsbeiträge, obwohl die Straßen zum Teil schon vor Jahrzehnten angelegt worden sind.

Nun hat sich das Bundesverfassungsgericht bei einem Streitfall in Rheinland-Pfalz eindeutig positioniert. Eine zentrale Aussage lautet, dass das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verlangt, dass Betroffene nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden dürfen, ob sie selbst nach vielen Jahrzehnten noch mit Belastungen rechnen müssen.

Üblich ist, dass Anlieger für die Erschließung eines Grundstücks bezahlen müssen, sobald sie die Straßen tatsächlich nutzen können. Der Fachbegriff im Erschließungsbeitragsrecht heißt „Vorteilslage“. Im konkreten Backnanger Fall ist nun strittig, zu welchem Zeitpunkt eine Straße fertig ist. Es handelt sich um die Straßen Am Dresselbach, Am Krähenhorst und die Dresselbachstraße. Bislang argumentierte die Stadt Backnang, dass die Straßen in all den Jahrzehnten ihres Bestehens noch nie richtig ausgebaut, sondern nur provisorisch hergestellt waren. Als Beispiel listet die Stadt die Entwässerung des Regenwassers auf. Diese habe noch nie existiert, es habe teilweise gar keine Randsteine gegeben. Das Wasser sei all die Jahre einfach irgendwo im Grünstreifen versickert. Vor über drei Jahren wurden nun die Straßen, die 26 Grundstücke erschließen, für 600000 Euro saniert.

Kommunen können selbst festlegen, wann eine Straße als „fertig“ gilt

Einer der betroffenen Anwohner ist Friedrich Gehring, er soll für zwei Häuser und Gartengrundstücke 88715 Euro Erschließungsgebühren bezahlen. Dabei ist nach Gehrings Ansicht die Erschließung des Gebiets allerspätestens in den 1970er-Jahren abgeschlossen gewesen, damals wurde die Straßenbeleuchtung gebaut.

Der Schwäbisch Gmünder Anwalt Johannes Mascha ist Experte auf dem Gebiet Erschließungsbeiträge. Er hat die Musterklage einer Anwohnerin aus Sachsenweiler gegen die Stadt Backnang in Karlsruhe eingereicht. Seine Verfassungsbeschwerde umfasst 420 Seiten. Mascha sieht sich durch den jüngsten Beschluss der Karlsruher Richter in seiner Auffassung bestätigt, dass die sogenannte Vorteilslage bereits eintritt, wenn zum Beispiel die Verkehrsfreigabe der Straße erfolgt. Sollten nämlich die Standards für die Definition „Straße ist fertig hergestellt“ jederzeit von einer Kommune geändert werden können, dann könnten sich Anwohner nie sicher fühlen, dass keine Kosten mehr auf sie zukommen. Mascha treibt es auf die Spitze, wenn er erklärt: „Dann könnte auch das Aufstellen eines Pflanztrogs bedeuten, dass die Straße erst jetzt fertig ist.“ Die Richter hätten eindeutig erklärt, dass Beiträge nicht mehr zeitlich unbegrenzt festgesetzt werden dürfen.

Der neue Leiter des Backnanger Baurechtsamts, Thomas Kleibner, vertritt die Auffassung, dass die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im konkreten Fall nur das Bundesland Rheinland-Pfalz betrifft. In Baden-Württemberg hingegen seien das Kommunalabgabengesetz (KAG) schon am 12. Dezember 2020 und die Gemeindeordnung (GemO) am 2. Dezember 2020 entsprechend angepasst worden. Nach Paragraf 20 Absatz 5 KAG BW wäre das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit dann verletzt, wenn 20 Jahre nach dem Beginn der Vorteilslage noch Beiträge gefordert werden. Das Karlsruher Urteil habe auf das laufende Verfahren der Sachsenweiler Kläger keinerlei Auswirkungen. Kleibner erinnert ferner daran, dass im konkreten Fall von Sachsenweiler das Verwaltungsgericht Stuttgart und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg bestätigt haben, „dass die Vorteilslage erst mit dem in den Jahren 2017 und 2018 erfolgten plangemäßen Ausbau der Straßen entstanden ist“. Eine Verletzung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit sei eindeutig verneint worden.

Mascha sieht das völlig anders und nennt die im KAG aufgenommenen Änderungen „Etikettenschwindel“. Das Gesetz sei so geändert worden, dass es leer laufe. „Diese Rechtssprechung sieht die Vorteilslage immer erst dann gegeben, wenn das letzte Detail an einer noch nicht offiziell hergestellten Straße realisiert ist.“ Bei einer solchen Definition könne das selbst bei einer alten Straße noch in der Zukunft liegen. Mascha: „Baden-Württemberg hat im Dezember 2020 gesetzlich geregelt, dass die Festsetzung eines Erschließungsbeitrags spätestens 20 Jahre nach Eintreten der Vorteilslage nicht mehr zulässig sein soll. Die Landespolitik behauptet nun, damit die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllt zu haben. Das Gesetz ist jedoch so unklar formuliert, dass die Verwaltungsgerichte diese zeitliche Begrenzung einfach ignorieren.“ Damit gebe es de facto keinen Schutz der Anlieger. Mascha erklärt: „Die Folge ist, dass jüngst selbst Anlieger an einer etwa 200 Jahre alten Straße noch zur Zahlung von Erschließungsbeiträgen in fünfstelliger Euro-Höhe verurteilt wurden.“

Etwa 50 Straßen meist aus den 1950er-Jahren sind noch nicht abgerechnet

Die Musterklage Der erste Erfolg der Klägergemeinschaft aus Sachsenweiler war bereits, dass die Musterklage im Juli 2021 vom Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen wurde. Anwalt Johannes Mascha rechnet nicht mit einer Entscheidung noch in diesem Jahr.

Betroffene Gebiete In Backnang schwebt das Damoklesschwert möglicher Erschließungsbeiträge noch über Eigentümern in etwa 50 Straßenzügen. Um welche Straßen es sich handelt, verrät die Stadt nicht. Hauptsächlich betroffen sind Straßen aus den 1950er-Jahren, die aufgrund der Vielzahl der nach dem Krieg entstandenen Baugebiete in einigen Fällen nur provisorisch im Sinne des Erschließungsbeitragsrechts hergestellt wurden. Baurechtsamtsleiter Kleibner: „Bei einer später erfolgenden erstmaligen endgültigen Herstellung der Straße ist die Stadt verpflichtet, Erschließungsbeiträge zu erheben. Dass aufgrund der früheren Praxis unpopuläre Entscheidungen in die Zukunft verschoben wurden und dies heute zu Unmut führen kann, ist der Stadtverwaltung durchaus bewusst.“

Heutige Gebiete Das Problem der späten Beitragserhebung kommt bei neuen Straßenbaumaßnahmen nicht mehr vor. Straßen werden heutzutage nicht mehr provisorisch hergestellt, sondern entsprechen den Anforderungen des Beitragsrechts und werden zeitnah abgerechnet. Beim Verkauf von städtischen Bauplätzen werden die Erschließungskosten zusammen mit dem Grundstückspreis erhoben. Viele Baugebiete werden über Erschließungsverträge erschlossen und die Kosten werden mit den Erschließungsträgern direkt abgerechnet.

Bundesrecht Der erwähnte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe vom 3. November des vergangenen Jahres, der jüngst veröffentlicht wurde, hat das Aktenzeichen 1BvL 1/19. Der Beschluss bezieht sich zwar auf eine Rechtslage in Rheinland-Pfalz und betrifft die Rechtslage in Baden-Württemberg nicht unmittelbar, weil das Erschließungsbeitragsrecht in den Bundesländern unterschiedlich geregelt ist und gehandhabt wird. Gleichwohl enthält der Beschluss universale Aussagen, die für alle Bundesländer gleichermaßen gelten.

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Erstellt:
20. Januar 2022, 06:00 Uhr

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